Donnerstag, 21. November 1996

21. November

"Wieviele Schwule kennst du eigentlich?"
Nils und ich waren auf dem Weg vom Training nach Hause. Diese Frage kam so aus heiterem Himmel, daß ich einen Augenblick stehenbleiben mußte und überlegte.
"Was meinst du mit 'kennen'?"
"Richtig kennen, also nicht deine Schwimmbad-Quickies, sondern Schwule mit den du dich richtig unterhalten hast?"
"Das sind nur zwei: Du und ein Typ aus der ehemaligen Oberstufe."
"Von unserer Schule? Wer war denn das?"
"Den kennst du bestimmt nicht. Boris heißt der, aber der hat im Sommer Abi gemacht."
"Und wie gut kennst du ihn? Habt ihr etwas miteinander gehabt?"
"Meine Güte, nein!" Ich verstand nicht recht, was er mit seiner Fragerei rausbekommen wollte. "Und damit du es gleich weißt", ich merkte, wie ich langsam bockig wurde, "ich habe ihn schon seit mindestens einem halben Jahr weder gesehen noch gesprochen. Weil das absolut nicht mein Typ ist und es eigentlich nur Zufall war, daß wir uns kennengelernt haben."
"Ist ja schon gut, du brauchst dich doch nicht gleich aufzuregen."
"Was soll eigentlich deine Fragerei."
"Ich weiß nicht. Vielleicht... ach ich weiß nicht."
"Komm, raus damit. Da ist doch was."
"Es ist nur", ich sah, wie er sich quälte, "ich habe einfach nur Angst, dich zu verlieren. Ich glaube du bist schon viel weiter, mit dem, naja, mit dem wie wir sind." Ich merkte, wie schwer es ihm viel, das Wort 'Schwulsein' oder 'schwul' auszusprechen. Ich merkte, wie mich ein Gefühl von Wärme durchströmte. Er schien mir auf einmal so verletzlich, so zerbrechlich, als wenn ich ihn vor der ganzen Welt beschützen müßte. Meinen Nils, der normalerweise immer der coole Macher war. Ich wartete ab, bis die Leute, die uns entgegenkamen, vorüber waren und dann drückte ihn ihn ganz kräftig an mich: "Ich werde dich nie wieder loslassen. Du bist mein Lieblings-Nils. Und für mich ist das alles doch genauso neu wie für dich."
"Aber für dich scheint alles viel leichter zu sein."
"Was meinst du mit leichter?"
"Na du redest so einfach davon, daß du schwul bist. So als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. Verdammt noch mal, ich habe einfach Angst. Angst, daß das jemand erfährt."
Ich rede selbstverständlich vom Schwulsein? Ich war völlig baff. Ich versuchte ihm zu erklären, daß er keine Angst haben braucht. Daß ich es bestimmt niemandem erzählen werde und daß ich das vielleicht einfach nur für mich selbstverständlich finde, weil ich weiß, daß ich gar nicht anders kann, als den Jungs hinterherzugucken.
"Wann hast du es das erste Mal gemerkt?"
"Uff, vielleicht so mit 11 oder 12."
"Und wie?"
"Naja, ich merkte einfach, daß ich immer nur den Jungs hinterherguckte oder sie anstarrte. Und irgendwann, als ich mit dem Wichsen anfing, waren es eben immer nur Jungs oder Männer an die ich dabei dachte. Wenn irgendwo in der Zeitung ein Bild von einem nackten Typen war, oder wenn der einfach nur cool aussah, dann habe ich mir die Zeitung aufgehoben und das Bild ausgeschnitten. Oder wenn irgendwas in der Art im Fernsehen war."
"Und da wußtest du schon, daß du schwul bist?"
"Nein, zu der Zeit noch nicht, jedenfalls nicht richtig. Ich dachte immer, das geht irgendwann vorbei. Ich habe eigentlich zu der Zeit gar nicht darüber nachgedacht. Es war eben so. Peng! Aus! Nur wenn ich jetzt an die Zeit denke, dann wird mir das klar."
"Und wann weißt du es nun richtig?"
"Seit diesem Frühjahr. Also da habe ich wirklich zu mir gesagt: 'Ja, ich bin schwul.' Aber glaube bloß nicht, daß damit alles leichter geworden ist. Eigentlich genau umgekehrt. Plötzlich war mir klar, daß ich eben nicht so bin, wie alle anderen um mich herum." Ich zwinkerte ihm zu: "Mit Ausnahme von dir."
"Wie? Wie konntest du denn das wissen?"
"Mensch, das war ein Joke." Es begann zu nieseln.
"Wieso gerade im April?" Ich wunderte mich über seine Hartnäckigkeit. Längst waren wir an der Kreuzung angekommen, wo wir uns eigentlich trennen mußten. Es war kalt, naß, aber wir standen da und redeten über unser Schwulsein, als würde es keinen angenehmeren Ort auf der Welt geben.
"Ach ja, vielleicht war es die neue Schule, die neuen Leute. Und außerdem war ich verliebt."
"Damals schon?"
Ich nickte. Wir sahen uns um. Weit und breit war niemand in Sicht. Eine kurze, heftige Umarmung, ein heißer Kuß und dann trennten sich unsere Wege. Es muß schon ein seltsames Bild gegeben haben. Da umarmen sich zwei Jungs im Regen, küssen sich und dann trennen sich ihre Wege, immer wieder unterbrochen von stummen Blicken zurück.

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