Montag, 11. November 1996

11. November

"Das war ja eine schöne Scheiße", fluchte Tobias. Ich glaube der Meinung waren alle von uns. Die Chemieklausur war der absolute Hammer. Ich saß vor dem Bogen und dachte, ich muß jetzt eine neue Formel für den nächsten Nobelpreis entwickeln. Naja, ich habe dann irgendwas hingeschrieben, mal sehen, was rauskommt. Aber doll ist es bestimmt nicht.

Und dann hat sich heute noch was ereignet, was ziemlich daneben ist: Miriam hat mit mir gesprochen. Es gibt Leute in meiner Klasse, mit denen rede ich normalerweise nie. Nicht daß ich mit denen zerstritten wäre; sie interessieren mich einfach nicht und ich sie wahrscheinlich auch nicht. Und Miriam ist so ein Mädel. So ein typisches dürres Gestell, das sich für ein Model hält. Alle Jungs der Klasse, nein eigentlich der ganzen Schule (na gut nicht alle, ein kleines gallisches Dorf...) sind hinter ihr her. Doch sie blickt nur gelangweilt um sich und läßt einen Verehrer nach dem anderen abblitzen. Max hat mir erzählt, daß er sie in Stuttgart mal mit einem Typen in einem GTI Cabrio gesehen hat. Ob es nun an dem Wetter liegt, was Cabriofahren nicht besonders attraktiv macht oder an was anderem...ich weiß es nicht. Jedenfalls quakte mich dieses Teil mit ihrer Dreijährigenstimme heute in der großen Pause an: "Tiiiiim!" So klingt nicht mal Lisa. Ich hab zuerst gar nicht geschnallt, daß sie mich meinte, so meilenweit entfernt schien mir der Gedanke, daß sie mit mir redet. Aber es bestand kein Zweifel: Ein anderer Tim war weit und breit nicht greifbar.
"Ja?" antwortete ich mit einer Mischung aus Verwirrung und Desinteresse.
"Hast du Chemie auch so schlimm gefunden?" Sie sagte das natürlich anders, in purem Schwäbisch, das ich allerdings überhaupt nicht zu Papier bringen kann. Mit meiner Antwort beging ich einen schweren taktischen Fehler: "Es ging so."
"Ich habe ja überhaupt nichts kapiert, und wenn ich dieses Jahr durchrassele kann ich das Abi vergessen." Ich konnte ihrer Logik nicht ganz folgen, aber das war mir im Grunde genommen auch völlig egal. Eigentlich hätte ich ihr vorschlagen sollen, doch gleich ganz von der Schule abzugehen. "Und weil du doch in Mathe und Physik so gut bist, dachte ich mir", dabei klapperte sie allen Ernstes so mit ihren Wimpern, daß ich mir auf die Zunge beißen mußte, um nicht laut loszulachen, "ich dachte mir, wir könnten für die nächsten Klausuren vielleicht zusammen lernen."
ALARMSTUFE ROT. Ich setzte mein Verarschungsgesicht auf und klimperte genauso extrem zurück: "Wieso?" Ok, eine etwas intelligentere Antwort wäre besser gewesen. Warum, warum nur mußte dieses dumme Teil ausgerechnet MICH anquatschen wo doch Millionen von Jungs in ganz Deutschland ihr hinterhersabberten? Warum ich? Das Dumme war: sie fühlte sich nicht verarscht. "Wen soll ich denn sonst fragen?"
Mädchen, wollte ich am liebsten rausschreien, sieh dich doch einfach mal um. Im Umkreis von 50 Meter stehen mindestens 10 Jungs, die gleich und sofort mit dir jedes Fach der Welt lernen würden. Nur ich, ich bin nicht interessiert! Nicht an Mädchen im Allgemeinen und an einer wimpernklappernden, mundrotbemalten Claudia-Schiffer-Kopie mit quakender Kinderstimme im Speziellen auch nicht. Nur blöderweise habe ich das natürlich nicht gesagt. Statt dessen murmelte ich etwas wie: "Naja mal sehen. Frag mich doch einfach noch mal vor der nächsten Mathe-Arbeit." Fehler, großer Fehler. Ich bin manchmal soooo bekloppt! Sie strahlt mich an und umarmt mich. Dann rauscht sie in Richtung Treppenhaus. Jeder andere Junge wäre den Rest seiner Schuljahre stolz bis zum Gehtnichtmehr gewesen, wenn ihm das passiert wäre. Allein die Umarmung vor allen Anderen auf dem Schulhof hätte in etwa dem Ansehen einer nagelneuen BMW-Maschine entsprochen. Mir war das Ganze nur peinlich. Peinlich vor allem, weil natürlich gerade in dem Augenblick, in dem sie mich umarmte, Nils in Sichtweite kam. Bevor er irgend etwas fragen konnte, ja noch bevor er überhaupt sein so niedliches fragendes Gesicht aufsetzen konnte, lief ich auf ihn zu: "Wo warst du denn?" rief ich ihm entgegen.
"Wieso? Was ist denn los?"
"Du hättest mich vor diesem männermordenden Ungeheuer Miriam beschützen können. Hat sie dich auch schon gefragt?"
"Gefragt? Was denn? Was ist denn los?"
"Miriam hat mich gerade gefragt, ob wir nicht zusammen Mathe lernen wollen. Mich! Gefragt! Mathe!"
Für eine Sekunde starrte mich Nils an, als hätte ich zwei Nasen und dann lachte er laut los: "Du hast eben Chancen bei den Frauen."
"Scheiß drauf, warum fragt sie ausgerechnet mich?"
"Keine Ahnung." Er war sichtlich amüsiert. "Und was hast du geantwortet?"
"Daß ich schwul bin und daß mich Mädchen nicht interessieren." Die Panik, die innerhalb einer Zehntelsekunde in seinem Gesicht erschien, entschädigte mich wieder für seinen Spott. "Ich habe glaube ich einen großen Fehler gemacht", fuhr ich fort. Ich sah wie sich wieder mal seine Augen verengten. "Ich habe nicht einfach 'nein' gesagt, sondern so was wie 'mal sehen.'" Nils boxte mir scherzhaft auf den Arm: "Na, daß mir da keine Klagen kommen."
"Verdammt noch mal", begann ich zu schreien und flüsterte dann weiter "ich liebe doch nur dich." Nils strahlte und blickte verlegen zu Boden. Ich hätte ihn so gerne umarmt in diesem Augenblick. Er blickte auf und sein Blick war Umarmung genug.

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