Freitag, 1. November 1996

1. November

"Kaffee?"
"Um Gottes Willen nein, Kakao."
"Das ist ganz schlecht für dein Gewicht."
"Pah, das ist mir egal. Und überhaupt. Was ist an meinem Gewicht zu meckern?"
"Naja, wenn du auf mir draufliegst..."
Wir jagten uns lachend durch die ganze Wohnung bis wir wieder in der Küche waren. Nils hatte ein riesiges Frühstück gezaubert und wir räumten fast den gesamten Kühlschrank leer. Ich hoffe, ich kann ihm irgendwann mal bei mir zu Hause so ein Frühstück machen. Es ist alles so, so selbstverständlich. Nachdem wir mit dem Frühstück fertig waren, sind wir zu mir getapert. Ich hatte ein wenig Angst, daß Mom und Dad doch noch zu Hause geblieben waren, aber wir waren allein. Auf dem Eßtisch lag ein Zettel, daß ich Lisa am Nachmittag von Sarahs Eltern abholen soll. Wir spielten etwas am Computer, schmusten rum. Irgendwann klingelte das Telefon: Es war Doris. Sie erzählte mir, daß sie einen riesigen Zoff mit Clemens hatte und daß sie ihn nie wieder sehen will. Nils guckte mich fragend an. "Es ist Doris", flüsterte ich ihm zu, während ich den Hörer zuhielt. Er verzog das Gesicht. "Was ist los?" fragte Doris, "störe ich?"
"Nein, es ist nur Nils da."
"Ach so, grüß ihn von mir. Und sag ihm, daß alle Männer Schweine sind."
"Hey, das wird doch wieder mit dir und Clemens."
"Ich weiß nicht, das ist doch alles eine große Scheiße."
"Ach was, weißt du, ich komme heute abend vorbei, ok? Dann reden wir in aller Ruhe."
Shit, ich sah wie Nils' Mundwinkel nach unten wanderten.
"Oh Tim, das ist lieb. Ich glaube ich brauche heute wirklich jemanden zum Reden."
Ich legte auf. Keiner sagte etwas. Irgendwann krächzte ich heiser: "Ich bin heute Abend bei Doris."
Nils schwieg. "Sie hat Streß mit ihrem Typen."
Nils nickte: "Ich dachte nur, daß wir den Abend heute zusammen verbringen."
"Ich muß ihr helfen. Weißt du, als es mir so dreckig ging, weil ich schwul bin und weil ich mich so allein gefühlt habe, da war sie immer da und hat mir geholfen."
"Weiß sie etwa Bescheid?"
"Ja."
"Bist du bekloppt?" Er sprang auf und starrte mich an: "Hast du ihr etwa auch von mir erzählt?"
"Ja natürlich. Aber du kannst ganz ruhig sein. Sie tratscht nichts weiter."
"Verdammt noch mal, wie kannst du so etwas machen? Hast du nichts Besseres zu tun, als rumzulaufen und das in der Weltgeschichte rumzuposaunen? Das ist ein Ding zwischen uns beiden!"
Langsam wurde ich auch wütend: "Ich habe gar nichts rumposaunt. Aber Doris ist meine beste Freundin. Sie weiß alles von mir. Und sie war immer da, wenn ich sie brauchte." Und dann sagte ich etwas, was ich lieber nicht gesagt hätte: "Sie war sogar da für mich, als du mit irgendwelchen Dosen rumvögeln mußtest."
Nils kniff die Augen zusammen. Er rief noch: "Du verfluchtes Miststück!" und rannte nach unten. Die Tür fiel krachend hinter ihm zu.

Ein paar Minuten saß ich einfach nur da und starrte ins Leere bis ich endlich begriffen hatte, was gerade passiert war. Und dann fing ich an zu heulen. Die Tränen liefen mir die Wangen herunter, ich schluchzte und konnte gar nicht mehr aufhören. "Nils, bitte komm zurück", wimmerte ich vor mich hin. Doch da war kein Nils mehr. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dagesessen hatte, bis ich schließlich zum Telefon griff. Ich wählte Nils' Nummer. Doch er ging nicht ran. "Nils, bitte, geh ran", flehte ich verzweifelt in den Hörer. Ich blickte mich um. Mein Zimmer, alles sah noch genau so aus wie vor einer Stunde und doch schien mir alles so unwirklich weit weg. Das Telefon klingelte.
"Nils?"
"Nein, wer ist denn Nils?"
"Ach Mom, du bist es." Ich versuchte, meine Tränen runterzuschlucken und halbwegs ruhig zu klingen.
"Ja ich bin es, tut mir leid, daß ich diese Telefonleitung auch mal benutze", sagte sie mit vorwurfsvollen Ton. "Denkst du daran, Lisa von Sarah abzuholen!"
"Ja, ich habe den Zettel schon gesehen."
"Sehr schön, mach ihr bitte was zu essen. Es stehen genug Sachen im Kühlschrank; und nicht nur wieder Pommes mit Ketchup."
Ich legte auf und guckte zur Uhr. Zwei Stunden. Ich versuchte noch einmal Nils anzurufen. Jedes Klingeln wie ein weiterer Schritt auf den Abgrund zu. Ich raste nach unten, griff mir mein Rad und fuhr zu ihm. Ich konnte kaum etwas sehen, so sehr standen mir die Tränen in den Augen, doch ich fuhr so schnell wie noch nie in meinem Leben. "Ich liebe dich doch, verdammt noch mal ich liebe dich doch so sehr", mit jedem Tritt in die Pedale hämmerte dieser Satz in meinem Kopf. Endlich. Ich warf mein Rad auf den Weg, rannte zur Tür und klingelte. Klingelte Sturm. Nach einer halben Ewigkeit öffnete sich die Tür. Erst einen Spalt, so daß ich schon dachte, Nils Eltern wären da. Aber dann schwang die Tür auf und Nils stand vor mir. Er hatte Tränen in den Augen wie ich. "Tim ,ich..." Ich stürmte auf ihn zu: "Nils, es tut mir leid. Ich bin so ein verdammter Idiot. Ich wollte dir nicht weh tun."
Ich umarmte ihn und Nils schluchzte wie ein kleines Kind: "Tim, ich war der Idiot. Bitte, bitte verlasse mich nicht." Wir klammerten uns aneinander wie zwei Ertrinkende, die versuchen sich gegenseitig Halt zu geben. Ich nahm sein Gesicht in meine Hände und küßte seine Tränen weg. "Ich habe solche Angst", sagte ich. "Ich habe dich so lieb und habe doch solche Angst, dich zu verlieren."
"Wir bleiben immer zusammen", flüsterte er, "was immer auch passiert." Ich drückte ihn fest an mich. "Es ist alles so neu für mich", sagte er nach einer Weile. "Ich habe nie daran gedacht, daß ich so...naja du weißt schon...so sein könnte."
Ich nickte.
"Ich dachte immer, das ist nur so eine Phase, daß das einfach irgendwann vorbeigeht."
"Aber es ging nicht vorbei."
Er schüttelte den Kopf: "Nein, im Gegenteil, es wurde immer schlimmer. Ich habe gedacht, ok, wenn ich mit einem Mädchen schlafe wird alles wieder gut. Aber ich fand es einfach nur langweilig."
"Es ist alles gut geworden", beruhigte ich ihn. "Es ist gut so wie es ist."
"Aber was ist mit den anderen? Was ist mit meinen Eltern? Wenn irgend jemand hier mitkriegt, daß wir so sind, dann können wir uns doch nur erschießen."

Ich fand das schon etwas übertrieben, aber im Grunde hat er recht. Ich meine, wenn ein Typ mit einem Mädel zusammen ist, dann können es alle sehen. Dann sollen es sogar alle sehen. Aber was um alles in der Welt ist, wenn zwei Jungen zusammen sind? Ich habe in Hamburg ein paarmal irgendwelche schwulen Pärchen Hand in Hand oder zusammen knutschend gesehen. Aber irgendwie fand ich das auch seltsam in der Öffentlichkeit vor anderen. Shit und hier, in diesem Kaff? Ich riß mich zusammen. Was machte ich mir eigentlich darüber Gedanken? Ich habe den süßesten Jungen der Welt. Ich habe ihn für mich, wir sind zusammen. Völlig egal, was draußen los ist. Wenn wir zusammen sind ist die Welt in Ordnung. "Wir sind zusammen", meinte ich, "das ist alles was zählt. Ok, wir können nicht händchenhaltend über den Marktplatz laufen. Na und? Wir haben alle Zeit der Welt wenn wir alleine sind."
"Wie hast du es Doris erzählt?"
"Es kam einfach so. Ich war damals total verknallt in jemanden aus der Klasse. Und das hat sie wohl mitgekriegt und mich ganz direkt drauf angesprochen."
"Verknallt? In wen warst du verknallt?"
"Unwichtig, das war wirklich nur so eine unglückliche Schwärmerei, der ist Hetero."
"Nein, komm schon, sag's mir." Nils begann mich abzukitzeln.
"Ok, ok", gab ich lachend nach, "ich sag es ja schon. Es war Tobias."
"Waaas?" Nils bekam einen Lachanfall. "Entschuldigung, aber dieser totale Langweiler?"
"Naja, ich fand ihn auf jeden Fall niedlich. Damals. Bevor ich wußte, daß er hetero ist."
"Der ist gar nichts, der ist nicht mal hetero."
"Sei nicht so gemein. Er ist ganz ok. Nur eben nicht schwul"
"Aber mir bist du trotzdem hinterhergelaufen, obwohl du gedacht hast, daß ich hetero bin."
"Erstens mein Schatz, bin ich dir nicht hinterhergelaufen und zweitens, ja, das ist eben was anderes." Er küßte mich um mich zum Schweigen zu bringen. "Ich freue mich, daß du so hartnäckig warst bei mir", strahlte er. Wir blickten uns eine Weile einfach nur in die Augen bis mir schließlich Lisa einfiel. "Verdammt, ich muß los, Lisa abholen." Über Nils' Gesicht huschte ein Schatten. "Komm doch einfach mit", schlug ich vor. "Wir können hinterher wieder zu mir gehen."
"Hmm, warum eigentlich nicht." Und so taperten wir im beginnenden Nieselregen los. Lisa war ganz aufgeregt, daß ich sie abholte. "Wir hätten sie auch gebracht", meinten Sarahs Eltern. Jaja! Wir taperten zusammen nach Hause. Ich mußte grinsen, weil ich mich daran erinnerte, daß ich fast die gleiche Situation schon mal mit Tobias hatte. Zu Hause gab es eine heftige Diskussion, weil Lisa unbedingt Pommes haben wollte. Wir haben uns dann schließlich auf Pizza mit Pommes als Beilage geeinigt, was ein ziemliches Chaos in der Küche verursachte. Schließlich landeten wir dann alle vor dem Fernseher und zappten uns durch die Programme. Lisa war eingeschlafen und Nils drückte sanft meine Hand. Wir guckten uns an und brauchten nichts zu sagen. "Weißt du was, komm doch einfach nachher mit zu Doris."
"Ich weiß nicht, ob sie das so toll findet."
"Ach was. Sie hat bestimmt nichts dagegen, daß ich meinen Freund mitbringen." Er grinste. Es scheint alles so selbstverständlich zu sein.

Doris hatte nichts dagegen. Sie freute sich sogar, daß er mitgekommen war. "Clemens hat vor einer Stunde angerufen und hat sich entschuldigt. Es ist alles wieder ok zwischen uns." Ich grinste: "Das scheint ja heute der Tag der Versöhnungen zu sein. Was war denn eigentlich?"
"Ach, vergiß es, ich will nicht mehr daran denken. Erzählt mir lieber, wie es mit euch beiden läuft." Nils und ich guckten uns an und mußten gleichzeitig losprusten. "Hauptsache du paßt gut auf den Kleinen auf", sagte sie. "Keine Angst", antwortete Nils und legte seine Arme um mich, "ich lasse ihn nie wieder los." Normalerweise hätte ich auf so etwas total allergisch reagiert. Doch bei Nils und in dieser Situation fühlte ich mich auf einmal so sicher und geborgen. Es war wirklich ein schöner Abend. Nils meinte hinterher, daß er nie gedacht hätte, daß man sich so gut mit Doris unterhalten könnte. "Kommst du mit zu mir?" fragte er auf dem Heimweg.
"Du weißt, ich würde nichts lieber als das tun. Aber ich glaube meine Eltern würden ausrasten, wenn ich heute Nacht wieder nicht zu Hause bin."
Er nickte. Ein langer Kuß zum Abschied.

Was ist nur alles passiert? Meine Welt hat sich komplett gedreht. Alles erscheint so anders. Dinge, die vorher so wichtig waren, haben ihre Bedeutung verloren. Gleichzeitig erlebe ich alles viel intensiver, viel näher dran. Jede Minute muß ich an ihn denken. Ich liebe ihn und habe doch gleichzeitig Angst, etwas Falsches zu sagen, ihn zu verlieren.

1 Kommentar:

  1. Schön, das Ihr weitermacht! Danke dafür.

    Hoffentlich erfahren wir dieses Mal auch das Happy(?)-End...

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