Donnerstag, 27. Juni 1996

27. Juni

11:10
"Du bleibst heute noch hier", hat Mom entschieden und in der Schule angerufen. Ich habe kein Fieber mehr. Mein Kopf ist immer noch leer. Doch jetzt ist es eher angenehm. Ich blättere im "Schwul, na und". Alles ist ja so easy, du mußt dich nur outen und schon geht es dir gut, schreit es mir entgegen. So ein Schwachsinn. Als wenn ich so einen Freund finden werde. Ich nehme meinen Matheordner. Es ist komisch, Mathe fiel mir eigentlich immer leicht, aber auf einmal scheine ich den tieferen Sinn in den Formeln zu begreifen. Innerhalb von kurzer Zeit habe ich die Aufgaben fertig und die Graphen gezeichnet, n gegen unendlich. Mein Kopf beginnt sich wieder zu füllen, mit Winkelfunktionen, Anziehungskräften und der Weimarer Verfassung. Ich mache Situps und Liegestütz. Sehe mich im Spiegel. Ja, das bin ich, ich Tim Berger, 16 Jahre und schwul. Ganz allein in der Welt. Ich brauche niemanden. Ich bin mir selbst genug.


13:35
Es klingelte. Ich dachte, es wäre der Postbote. Als ich die Tür öffnete und Nils da stand, wollte ich schon 'Verschwinde!' sagen. Statt dessen drehte ich mich einfach um und ließ die Tür offen. Wortlos gingen wir in mein Zimmer. "Ist Französisch ausgefallen?" Er schüttelte den Kopf, wich meinem Blick aus und guckte zum Fenster. "Ich bin nach der Fünften abgehauen. Sorry, wegen Dienstag." Ich guckte ihn an. Er sah noch immer aus dem Fenster, doch ich merkte, was es ihn für eine Überwindung gekostet hatte, das zu sagen. Ich spürte wie die Wärme in meinen Körper zurückkehrte, doch ich riß mich zusammen. "Ist schon ok, du kannst ja nichts dafür, daß es mir im Moment beschissen geht." Natürlich kann er was dafür. "Bist du krank?" Das klang so, als hätte ich Krebs oder so was. "Ich hab mich erkältet, aber es geht schon wieder." Er nickte. Plötzlich drehte er sich zu mir: "Es tut mir wirklich leid, wegen vorgestern. Ich wollte dir eigentlich nur helfen."
"Du hast manchmal 'ne komische Art das zu zeigen."
"Ich weiß."
Ich merkte wie das alles, was ich für ihn empfunden habe wieder hochkam. Doch ich schob es beiseite. Mein Kopf war endlich wieder der Bestimmer. "Da muß ich alleine durch, wirklich. Aber trotzdem Danke. Nur so viel: es geht nicht um Stefanie."
Nils nickte: "Wenn du trotzdem mit jemandem quatschen willst...", er stockte. "Ist schon ok. Irgendwann werde ich's dir erzählen."
Mir fiel auf, daß ich immer häufiger lüge. Ich begleite ihn nach unten.
"Kommst du heute zum Training?"
"Nee, doch nicht mit Fieber. Aber ich bin morgen wieder in der Schule." Nils zwinkerte und boxte mich auf den Arm: "Wir sehen uns!" Dann schwang er sich auf sein Rad und düste davon ohne sich umzudrehen. Nein Nils, ich erlaube dir nie wieder, dich so in meinem Kopf breitzumachen. Ich erlaube es niemandem mehr.

Gerade hat Doris angerufen und sich nach mir erkundigt. Ich habe ihr gesagt, daß ich im Moment ziemlich down bin aber daß ich morgen wieder komme. Sie hat mir angeboten, vorbei zu kommen, aber ich habe abgelehnt.

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