Montag, 17. November 1997

17. November

"Was starrst du mich so an?"
Hatte ich ihn tatsächlich angestarrt? Er mußte es bemerkt haben. Sein Tonfall war halb aggressiv, halb einfach nur fragend. Was sollte ich sagen? Jonas saß auf den Stufen vor dem Triumphbogen und hatte wohl genauso eine Freistunde wie ich. Ich hätte mich umdrehen und einfach weggehen können. Ich hätte mit der Schulter zucken können und sagen können, er bildet sich das nur ein. Aber das machte ich alles nicht. Statt dessen ging ich zu ihm rüber und sagte: "Ich wollte dich mal was fragen..."
"Du bist in der Stufe unter mir, oder?"
"Ja."
"Und du willst mich bestimmt fragen, ob ich wirklich schwul bin, warum ich nicht auf Mädchen stehe und so was."
"Nein."
Zum ersten Mal sah ich so etwas wie Erstaunen in seinem Blick.
"Und was willst du nun fragen? Bist du auch schwul? Mensch, mach es doch nicht so spannend."
Ich überhörte den ersten Teil seiner Frage: "Ich will wissen, warum du in der ganzen Schule rausposaunt hast, daß du schwul bist."
"Ich habe es nicht in der ganzen Schule rausposaunt. Ich habe es den Leuten in meinem Kurs gesagt. Aber wie wir ja sehen, ist es schon überall rum. Wahrscheinlich weiß sogar schon jeder Fünftklässler hier Bescheid."
"Ist ja wohl auch klar. Hier gibt es doch sonst nichts Interessantes, was passiert."
"Scheißegal."
"Also, warum hast du es den Leuten im Kurs erzählt?"
"Weil ich echt keine Böcke mehr darauf habe, immer nur noch Versteck zu spielen. Dieses ewige Fragen: Hast du eine Freundin, warum hast du keine Freundin? Das hat mich nur noch so abgenervt."
Shit, das kommt mir alles so bekannt vor. Und das hätte ich ihm am liebsten auch gesagt. Daß es mir genau so geht wie ihm. Aber es ging nicht. Irgendwas in mir hielt mich davon ab, ihm alles zu sagen. Ich guckte ihn unauffällig an, was sehr gut funktionierte, weil Jonas sowieso immer in andere Richtungen guckte. Vielleicht sah er gar nicht so schlecht aus, vielleicht, wenn er sich diesen schrecklichen Schamhaarbart abrasieren würde, der bei den Jungs in der oberen Stufe so angesagt ist und total scheußlich aussieht. Jonas lacht nicht, Jonas grinst nicht, er macht eigentlich die ganze Zeit einen total genervten Eindruck. Vielleicht hat er es schon zu vielen Leuten erzählen müssen, zu viele Fragen beantworten müssen. Ist vielleicht viel zu oft blöde angemacht worden. Aber ich mußte ihn einfach weiter fragen: "Und wie ist es jetzt so? Ich meine, was sagen die anderen Leute?"
"Oh, es ist einfach toll. Von meinen Freunden, oder nein, von meinen früheren sogenannten Freunden, will mich der größte Teil nicht mal mehr kennen. Hast du eine Ahnung, wie das ist? Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn die meisten Leute beim Sport aus der Dusche rausgehen, wenn du reinkommst?"
"Shit."
"Ok, ein paar wirklich gute Freunde sind geblieben. Ganze drei Typen. Aber vielleicht reicht das ja, wenn man weiß, wer wirklich die Kumpels sind, die zu einem halten."
Seine Stimme war traurig geworden. Plötzlich drehte er sich zu mir um und sah mir direkt in die Augen: "Warum willst du das alles wissen? Ist das wirklich so spannend für euch Heteros? Habt ihr nicht eure eigenen Probleme? Oder bist du am Ende vielleicht auch schwul?"
Ich hielt seinem Blick stand. Irgendwie schaffte ich es, ihm weiter direkt in die Augen zu blicken, während es in meinem Kopf fieberhaft arbeitete. Was nur antworten? Wenn ich ihm sage, daß ich auch schwul bin, dann weiß es morgen die ganze Schule. Aber sollte ich ihn anlügen? Irgendwie bin ich der Meinung, daß er es verdient hat, daß ich ehrlich zu ihm bin.

Es war Jonas, der mir die Entscheidung abnahm: "Ach was, Scheiß drauf. Ich muß jetzt los." Er griff seinen Rucksack und verschwand.

Ich fühle mich seltsam. Und unehrlich. Ich hätte es ihm sagen können. Daß ich mich genauso fühle wie er, daß ich nicht länger dieses Theater- und Versteckspielen abkann. Daß es mich einfach nur noch ankotzt, wie die anderen nur darüber reden, wer welches Mädel wie flachlegt, daß sie sich benehmen wie hirnlose Zombies im Kindergartenalter, wenn ein halbwegs attraktives Mädel im Raum ist. Ich hätte ihn so gerne gefragt, ob es seine Eltern wissen. Alles das habe ich mich nicht getraut. Ich war zu feige. Wieder mal war ich zu feige.

Ich habe Nils nichts von meinem Gespräch mit Jonas erzählt. Ich weiß nicht, ob das richtig oder falsch ist. Aber mir gehen so viele Sachen durch den Kopf. Ich habe es noch nicht gepackt.

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