Dienstag, 26. August 1997

26. August

"Wo bist du denn?"
"Was?"
"Du bist so weit weg? Woran denkst du?"
Wir lagen irgendwo auf dem Boden in Nils' Zimmer. Die Party war ein voller Erfolg gewesen. Alle möglichen und unmöglichen Leute waren da und ich war zwischendurch auch richtig gut drauf. Hatte Heikos Anruf vergessen, jede Menge Flens getrunken (weiß der Teufel, WO Nils DAS hier herbekommen hat), wie blöde getanzt. Irgendwann verzogen sich die Leute und es bleiben nur noch wir beide zurück.
"Du warst den ganzen Abend so gut drauf und auf einmal bist du so nachdenklich."
Ich schwieg.
"Tiiim! Was ist los? Hab ich dich mit irgendwas verärgert?"
"Nein, hast du nicht, ach Mensch. Du hast heute Geburtstag. Ich will jetzt nicht darüber reden."
"Komm schon, was ist los."
"Nils, bitte."
"Nichts da, da ist doch was, los jetzt, sage es mir."
"Heiko hat angerufen."
Nils zog die Stirn kraus: "Ja und?"
"Er kommt nach Stuttgart, weiß der Teufel wieso und will bei mir pennen."
"Und was hast du ihm gesagt?"
"Nichts, ich habe gesagt, daß ich das erst klären muß."
"Und WAS willst du klären? WAS WIRST du ihm sagen?"
"Ich werde sagen, daß er nicht bei mir pennen kann."
"Wieso nicht?"
"Wieso nicht? Mensch, das fragst DU?"
"Ich denke, du bist darüber hinweg. Also, dann kann er auch bei dir schlafen."
Ich blickte Nils völlig entgeistert an. Er meinte es anscheinend ernst.
"Das ist doch jetzt nicht wahr, oder?"
"Muß ich dir die Entscheidung jetzt abnehmen, oder was?"
"Ich habe meine Entscheidung schon getroffen."
"Ja, indem du wieder mal wegläufst."
"Das ist doch wohl alles nicht wahr. Haben wir nicht schon genug Streß gehabt wegen Heiko? Und jetzt sagst du so ganz einfach: 'Na klar, soll er doch bei dir pennen.'"
"Früher oder später wirst du ihn doch sowieso treffen. Spätestens in Leipzig. Also, wo ist das Problem?"
"Das Problem ist, daß ich dich nicht verstehe. Du weißt ganz genau, was Heiko für eine Rolle gespielt hat, und ich bin mir nicht sicher, welche Rolle er immer noch spielt in meinem Leben."
"Das ist es. Du hast Angst. Mein kleiner Freund Tim hat mal wieder Angst."
"Ja, verdammt noch mal, ich habe Angst. Ich habe Angst, daß ich meine Gefühle nicht unter Kontrolle habe. Ich habe Angst, daß ich wieder völlig abdrifte. Ich habe Angst, daß wir irgend etwas machen, was ich nicht will."
"Was du nicht willst? Du machst doch sowieso immer nur das, was du willst. Aber du hast Angst. Ja, das glaube ich dir sogar. Wie lange willst du weglaufen? Wie lange willst du vor Heiko weglaufen?"
Ich verfluchte das viele Bier, was ich getrunken hatte: Ich konnte nicht mehr vernünftig denken und antworten. Aber Nils war glasklar im Kopf. Er rutschte zu mir und nahm mich in den Arm: "Du bist mein Freund. Und ich vertraue dir. Wirklich, ich vertraue dir. Das klingt vielleicht total komisch. Aber es ist so."
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Warum vertraut mir Nils, wenn ich mir selber nicht einmal vertraue? Ich weiß nicht, was ich machen werde, wenn Heiko neben mir liegt. Wenn ich ihn überhaupt nur wiedersehe. Ja, davor habe ich Angst. Und Nils vertraut mir, daß ich das Richtige in diesen Augenblicken mache. Laufe ich wirklich weg, wenn ich Heiko absage? Ist es nicht in Wirklichkeit so, daß ich weiß, wo ich hingehöre, nämlich zu Nils?
"Und?" Nils blickte mich fragend an.
"Was und?"
"Wie entscheidest du dich?"
"Ich entscheide mich für dich."
"Das ist keine Antwort."
"Das ist eine Antwort. Die einzig richtige Antwort. Und jetzt laß uns dieses bescheuerte Thema endlich vergessen. Bitte! Du hast Geburtstag und ich will einfach nur bei dir sein und dich fühlen."
Nils nahm meinen Kopf in seine Arme und küßte sanft meine Stirn. "Du bist schon ein Chaot. Mein kleiner Tim-Chaot."

Wieder ein unbequemes, schmerzhaftes Aufwachen auf dem Fußboden. Übersät mit Chips, Konfetti und sonstwelchen undefinierbaren Dingen. Nils neben mir. In einem Jahr werden wir beide achtzehn sein. Volljährig. Komisches Wort. Und eigentlich kann uns dann keiner mehr. Eigentlich. Aber ich weiß, daß das natürlich so nicht stimmt.

Wir haben beide beschlossen, Krafttraining ausfallen zu lassen. Statt dessen sind wir ins Freibad getapert, sind ein bißchen geschwommen und haben ansonsten nichts gemacht.
Wird es Herbst? Ein komischer kalter Wind kam auf, als wir uns wieder anzogen. Sieht die Sonne anders aus? War sie nicht strahlender, gelber, weißer? Und jetzt sieht sie irgendwie goldener aus. Manchmal glaube ich, ich habe Halluzinationen. Das Thema Heiko haben wir nicht mehr angeschnitten. Und ich habe es den ganzen Tag aus meinem Kopf verdrängt. Ich werde ihm absagen. Was soll dieses Spiel. Heißt es nicht irgendwo "Und führe uns nicht in Versuchung?". Vielleicht ist es feige von mir. Aber Heiko kommt noch früh genug zurück in mein Leben. Im Oktober. Und das wird schon weh tun. Verdammt, und erst jetzt fällt mir ein, daß die beiden sich ja dann auch wieder gegenüber stehen werden: Heiko und Nils. Und beide wissen voneinander und von mir. Oh Shit, ist das eine bekloppte Situation. Und mich wundert noch was: Warum trete ich eigentlich in Leipzig an und Nils nicht? 'Ich verheize mich doch nicht in so einem zweitklassigen Wettkampf', das sieht Nils ähnlich. Ich, ich lasse mich verheizen. Das heißt, ich verheize mich selber. Mit Heiko, für Heiko, gegen Heiko. Und ich weiß, daß ich mit aller Kraft gegen ihn gewinnen will. Ja, es ist dieses verdammte Gefühl der Hilflosigkeit, was ich loswerden will. Diese Überlegenheit von Heiko will ich besiegen, die einfach nur deshalb da ist, weil ich in ihn verliebt war oder vielleicht auch noch bin.
Bin ich eigentlich noch ganz normal?
Es klopft. Phil!

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