Samstag, 5. Juli 1997

5. Juli

"Wer ist denn das Mädchen, das Nils bei sich hat?" fragte Doris.
"Das ist Sarah", antwortete ich gepreßt, "die aus der Tofa."
Doris zog mich beiseite: "Ganz ruhig. Fang' jetzt hier nicht an auszutickern. Bitte nicht!"
"Ist schon ok, ich bleibe ja ruhig", sagte ich. Doch innerlich kochte ich. Ich kochte vor Wut, vor Eifersucht und vor Haß. Wo war diese verdammte Gleichgüktigkeit der letzten Tage?
Eine Party wie andere auch. Wahrscheinlich hätte ich auch Spaß gehabt, wäre da nicht die Sache mit Nils. Ich wollte mich zusammenreissen, wollte tapfer sein. Aber ich mußte immer und immer wieder rübergucken. Er und Sarah schienen eine Menge Spaß zu haben, sie lachten und lachten. Und ich merkte, wie es in mir immer mehr kochte. Ich sezte mich von den anderen ab, ging hinaus, die Straße runter. Wollte einfach nur meine Ruhe haben. Doch es ging nicht. Jeder Schritt hämmerte in meinem Kopf, ich malte mir aus, was Nils wohl gerade in diesem Moment mit ihr machte. Nach zehn Minuten drehte ich um. Wollte meine Sachen holen und gehen. Doris saß in der Eingangstür.
"Wo warst du?"
"Spazieren, ich brauchte frische Luft."
"Bei einer Gartenparty, brauchst du frische Luft."
"Du weißt genau, was ich meine."
Sie nickte: "Es ist besser, wenn du nicht reingehst", meinte sie.
"Wieso?"
"Es ist einfach besser. Komm, wir gehen, wir können noch zu mir gehen und reden."
"Was ist denn los?" Ich schob mich an ihr vorbei in den Garten. Und da wußte ich, was sie gemeint hatte. Nils stand an einem Baum gelehnt und knutschte mit Sarah rum. Nils, mein Nils, umarmte ein Mädchen und küßte sie.
"Tim komm, wir gehen jetzt", Doris zog an meinem Arm. Ich ließ es mit mir geschehen und wir standen wieder auf der Straße. Wie ein kleines Kind zog sie mich hinter sich her. Irgendwann blieb ich einfach stehen und setzte mich auf den Bordstein. Dieses Bild, es ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Es geht mir auch jetzt nicht aus dem Kopf. Es wird mir nie, nie wieder aus dem Kopf gehen. Nils, mein Nils knutscht mit einem Mädel rum. Doris nahm mich in den Arm und drückte mich.
"Es tut mir leid", flüsterte sie, "ich wollte nicht, daß du das mitkriegst."
"Da ist nichts, hat er zu mir gesagt. Da ist nichts mit Sarah. Das hat er noch vor ein paar Tagen zu mir gesagt. Und jetzt?" Ich konnte nicht mal mehr heulen.
"Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Tim, es tut mir leid, wirklich. Ich hätte es dir so sehr gewünscht, daß du glücklich mit ihm bist.
Ich weiß nicht, wie lange wir so da saßen. Ich konnte nichts denken, sah nur die beiden, wie sie rumknutschten.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und stand auf.
"Tim, wo willst du hin?"
"Zurück, ich will zurück. Ich will mit ihm reden, ich will ihn fragen, was das soll."
"Bist du irre geworden, oder was? Willst du ihm vor der halben Klasse und eurem Verein eine Szene machen? Willst du dich hier wirklich unmöglich machen?"
"Soll er einfach so damit durchkommen?"
"Tim, es ist vorbei. Was soll denn das jetzt noch?" Sie hielt mich fest. Ich hätte mich losreissen können, doch eigentlich wollte ich gar nicht zurück. Es war doch sowieso alles sinnlos.
"Ich gehe nach Hause."
"Bist du sicher? Willst du nicht nicht doch lieber zu mir kommen?"
Ich schüttelte den Kopf und trottete los. Doris schweigend neben mir her. Als wir vor unserem Haus waren fragte sie mich: "Soll ich noch mit hochkommen, willst du noch reden?"
"Nein, wirklich nicht. Worüber soll ich noch reden? Keine Angst, ich gehe nicht zurück. Ich will einfach nur vergessen."
Doris drückte mich heftig zum Abschied. Ich ging nach oben. In Dads Arbeitszimmer noch Licht: "Tim, du bist schon zurück?"
"Ja, war nicht so doll, die Party."
Dad steht in der Tür: "Was ist los. Hast du zu viel getrunken?"
"Nein, verdammt noch mal, ich bin total nüchtern. Es war einfach nur 'ne Scheiß-Party!"
Ich ließ ihn stehen und ging in mein Zimmer. Ließ mich auf mein Bett fallen. Versuchte zu heulen, doch es ging nicht. Keine Tränen mehr, nur dieses ungeheure Gefühl von Einsamkeit. Ich setze mich an meinen Schreibtisch, lege eine Kassette ein, die Nils mir aufgenommen hat, mit diesen entsetzlich schönen und traurigen italienischen Schnulzen, zu denen wir immer so glücklich gekuschelt haben. Und endlich, endlich heule ich. Es ist, als wenn ein Film in meinem Kopf abläuft. Ein Film, mit Nils. Wie wir uns das erste Mal gesehen haben, unsere erste kleine Rauferei auf dem Schulhof, seine Hand auf meiner Schulter, sein Blick in der Umkleide, die Momente, in denen wir einfach nur rumgeblödelt haben, gemeinsam gelacht haben, die Nacht auf Sylt, wo wir uns das erste Mal geküßt haben, das erste Mal miteinander geschlafen haben, mein erster Sieg und Nils' leuchtende Augen. Alles, alles, was wir gemeinsam erlebt haben ist wie ein Film, ein Videoclip. Sekunden voll mit Glück. Momente, die nie wieder kommen. Ich sitze einfach nur da, schreibe, gucke aus dem Fenster, träume, heule. Irgendwann wird es langsam hell. Kein Traum. Alles um mich herum ist Wirklichkeit. Ich gehe unter die Dusche. Versuche alles abzuwaschen. Gehe zurück in mein Zimmer und räume alles, was mich an Nils erinnert weg. Die Kassetten, die CDs, die Bücher, die Reiseprospekte. Korsika, vergiß es, es wäre so schön geworden. Als letztes nehme ich den kleinen Eisbär. Ich packe alles zusammen in eine Kiste. Nichts mehr sehen, was mich an ihn erinnert. Die Gedanken, die Erinnerungen sind schlimm genug.
Dann gehe ich runter und laufe. Ich jogge. Doch es hilft nichts. Nils bleibt in meinem Kopf. Ich renne schneller, weiter bergauf. Meine Lungen scheinen zu brennen. Doch er ist immer noch da. Warum, warum nur ist das alles so schwierig?

Zu Hause gemeinsames Frühstück. Ich spiele eine perfekte Rolle. Lasse mir nichts anmerken. Ich bin ein Schauspieler, lächele auf Bestellung. Spiele mit Lisa und doch ist mein Kopf gleichzeitig ganz woanders.
Irgendwann kommt Mom in den Garten: "Telefon für dich. Hier unten, auf unserer Leitung."
"Wer ist es?"
"Ich weiß nicht, ich glaube Doris."
Ich tapere zum Telefon. Es ist Doris: "Wie geht es dir?"
"Blöde Frage. Was meinst du denn, wie es mir geht?"
"Wollen wir uns irgendwo treffen? Was zusammen unternehmen? Damit du auf andere Gedanken kommst?"
"Ich will nicht auf andere Gedanken kommen", schreie ich. Dann wird mir klar, daß es ja total daneben ist, wenn ich Doris anschreie. "Nein, wirklich nicht, Doris, das ist wirklich total lieb von dir. Aber ich kann im Moment nichts sehen und hören. Ich will nichts sehen und hören. Mein Kopf ist voll und leer gleichzeitig."
"Ok, wenn du irgendjemand zum Reden brauchst, dann melde dich, ok?"
"Ok."
Doris ist ein Goldstück. Und doch kann sie mir nicht helfen. Mir kann niemand helfen. Es gibt Mittag. Ich gehe wieder auf mein Zimmer. Jetzt klingelt mein Telefon. Ich gehe nicht ran, habe Angst es könnte Nils sein. Es ist Flo, der auf meinen Anrufbeantworter spricht: "Hallo Tim, du warst gestern so schnell weg. Na wer weiß, wen du wieder abgeschleppt hast. Hoffentlich denkst du daran, daß wir heute doch noch Wettkampf haben und eine Stunde früher als sonst."
Shit, auch das noch! Wettkampf. Ich überlege, ob ich überhaupt hingehe. Es ist nichts, was mich in diesem Verein noch hält. Gar nichts. Im Gegenteil. Aber ich kann die anderen Jungs jetzt nicht auf einmal so im Stich lassen. Ich packe hastig meine Sachen zusammen und düse los.

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