Freitag, 16. Mai 1997

16. Mai

"Und, hast du ihn schon angerufen?"
"Wen?"
"Na Heiko!"
Ich mag Doris wirklich gerne. Richtig wirklich. Aber es gibt Situationen in denen würde ich ihr am liebsten eine runterhauen. Und das war so eine Situation.
"Fragst du mich das jetzt bis zum Abi jeden Tag, ob ich Heiko angerufen habe?"
"Vielleicht."
"Ich kann ihn nicht anrufen. Ich weiß, daß ich jetzt dran wäre. Aber das packe ich nicht. Ich schaffe es einfach nicht. Ich würde kein Wort rauskriegen. Außerdem hätte ich das Gefühl, mich aufzudrängen und ihm hinterherzulaufen."
Doris blickte mich lange an: "Na das letzte stimmt ja immerhin. Wer hunderte von Kilometern fährt, nur um einen Typen wiederzusehen, der außerdem auch noch einen Freund hat...und da traust du dich nicht, ihn anzurufen? Aus dir soll man schlau werden."
"Wieso sollte es dir besser gehen als mir. Ich verstehe mich doch selber nicht."
"Hat er einen Scall? Dann könntest du ihm wenigstens mal eine Nachricht schicken."
"Nein, ich glaube nicht."
"Nils kommt."
"Na, haltet ihr wieder Kriegsrat?"
Ich lächelte gequält: "Nö, jedenfalls nichts weltbewegendes."
"Hat dir Tim eigentlich schon erzählt, daß er jetzt Privatstunden, beim Bundesligatrainer hat?" fragte Nils Doris.
"Nein, hat er nicht. Das ist doch ein Witz oder?"
Ich grinste und blickte in den Himmel.
"Nein, das ist kein Witz. Wenn er so weitermacht, ist er noch bei der Olympiade in Sydney dabei."
"Ich finde ja immer noch, daß dieser Sport nicht zu ihm paßt. Zu dir übrigens auch nicht."
"Wieso?" fragten Nils und ich gleichzeitig wie aus der Pistole geschossen.
"Also zu Silvio paßt das ja. Aber ihr beide seit doch sonst auch nicht zu Brutalos. Oder sind mir da noch irgendwelche sexuellen Vorlieben verborgen?"
"Das hat doch nichts mit Brutalo zu tun. Ich fasse es nicht! Ich dachte, wenigstens DU hättest das inzwischen verstanden." Ich redete mich richtig in Wut. Nils stand nur grinsend daneben und ließ mich reden. Als ich fertig war, wandte sich Doris an ihn: "Hast du eine Gehirnwäsche mit ihm gemacht? Er ist ja schon genau so drauf wie du."
"Dazu braucht es keine Gehirnwäsche. Wenn es erst mal jemanden erwischt hat, dann hat es einen erwischt."
"Männer", seufzte sie.
Zum Glück klingelte es und wir konnten diese unseelige Diskussion beenden.
In der zwiten großen Pause fragte mich Flo, ob ich wüßte was mit Tobias los ist.
"Nein, keine Ahnung."
Shit, ich war so sehr mit meinen Sachen beschäftigt, daß ich gar nicht mitbekommen hatte, daß Tobias seit Dienstag nicht mehr in der Schule war. Ich habe nach der Schule bei ihm zu Hause angerufen, aber es ist niemand rangegangen. Ich werde es morgen noch mal versuchen. Aber so schlimm kann es ja eigentlich nicht sein, wenn er nicht zu Hause ist.

Am Abend hat sich unser InnerCircle bei Nils getroffen. Es war richtig nett. Auch ohne, daß wir uns mit Unmengen von Alk zugeschüttet haben. Sogar Max war halbwegs klar die ganze Zeit über. Er hat von seiner neuen Eroberung erzählt. Irgendein blondes Naivchen aus der Keßler-Schule. Naja, dann kamen natürlich wieder diese tyischen Fragen, wann ICH mir denn mal ein Mädel zulegen würde. Schon komisch, daß sie nur mich fragten und nicht Nils. Wahrscheinlich nehmen sie bei ihm sowieso an, daß er mit dem Ringen verheiratet ist. Nun ja, ich habe halt wie immer mit meiner Standardantwort reagiert, daß bei dem Angebot an Mädels ja sowieso nichts für mich dabei ist. Was hätte ich denn auch sagen sollen. Na klar, am liebsten hätte ich Nils in den Arm genommen, geknuddelt und gesagt, daß ist mein Freund und fertig. Aber das habe ich natürlich nicht gemacht.
Als die anderen weg waren, saßen Nils und ich noch eine halbe Ewigkeit zusammen. Einfach nur so. Er hatt den Kopf auf meine Schulter gelegt und wir hörten Enya. Seit ich mit ihm zusammen bin, höre ich solche ronatische Musik. Es ist schon seltsam. Aber es ist auch schön. "Pennst du heute hier?"
Ich schüttelte den Kopf: "Ich muß mich mal ein bißchen öfters zu Hause sehen lassen. Meine Mom ist schon kurz vor dem Durchdrehen."
Nils nickte, als kannte er das. Einen langen, wunderschönen Kuß zum Abschied.
Ich schwang mich auf mein Rad und fuhr los. Als ich an unserer Kreuzung vorbei kam, hielt ich an. Und anstatt nach links fuhr ich nach rechts in Richtung Innenstadt. Ich weiß nicht wieso. Vorbei an unserer Trainingshalle fand ich mich plötzlich mitten in der ausgestorbenen Fußgängerzone wieder. Es war eine total unwirkliche Situation. Die Stadt war leer. Selbst Podium und Carpaccio waren zu. Es war absolut still, nur das leise Plätschern des Marktbrunnens. Da stand ich und war in einer ganz seltsamen Stimmung. Ich weiß gar nicht, was für eine Stimmung das war...es war nicht traurig, es war nicht happy...ich weiß es nicht, es war einfach nur seltsam. Irgendwann berappelte ich mich dann und fuhr wieder zurück. Die Friedrichstraße zog sich eine halbe Ewigkeit lang, unsere Kreuzung. Ich war müde. Den Hügel hoch, endlich zu Hause. Auf meinem Schreibtisch ein Zettel: 'Doris anrufen!' Ich glaube nicht, daß ich sie um diese Uhrzeit noch stören kann. Das muß Zeit bis morgen haben.

Ich werde einen Brief schreiben. Einen Brief an Heiko. Ich werde ihm schreiben, wie es mir geht, wie ich mich fühle, was ich für ihn fühle. Es muß raus. Es muß endlich raus.

Ich sitze und versuche, den Brief an Heiko zu schreiben, aber ich bekomme nicht einmal den ersten Satz hin. Verdammt, was ist nur los?

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