Samstag, 8. März 1997
8. März
"Den Arm raus! Den Arm!"
Ich höre Nils' Stimme wie sie sich fast überschlägt. Soll ich jetzt den Arm rausziehen oder lieber nicht, weil mein Gegner es doch bestimmt auch gehört hat und vorgewarnt ist? Ich weiß es nicht. Ich muß Nils bei Gelegenheit mal fragen, was man in solchen Situationen macht. Mein Gegner war ein kleiner, schüchterner Junge, den ich mich überhaupt nicht traute anzufassen, weil ich Angst hatte, er würde gleich losheulen. Das war ein ziemlicher Fehler, den er war zäh und vor allem total zappelig. Nicht daß er gut gerungen hätte, überhaupt nicht. Aber er nutzte jeden Fehler aus, den ich machte. Aus jedem Griff, den ich nicht fest ansetzte, wand er sich raus. Das war's dann aber auch. Nach der zweiten Verwarnung wegen Passivität für ihn, wurde ich wütend. Ich umfaßte ihn so fest wie ich konnte. Ich hörte wie er keuchte, machte ein Rolle und warf mich mit meinem ganzen Gewicht auf ihn. Ich hielt meinen Griff so fest wie ich konnte. Mit jedem Ausatemzug, den er machte zog ich ihn ein bißchen enger. Und dann schaffte ich es tatsächlich mit einem Nackenhebel ihn zu schultern. Der Schiedsrichter pfiff. Gewonnen! Yeah, dieses Gefühl ist einfach geil, wenn der Schieri den Arm hochhebt. Ich schielte zu Nils rüber. Er strahlte über sein ganzes Gesicht. Nur für dich mein Schatz, nur für dich habe ich gewonnen. Mit einem Griff, den wir gestern bis zum Umfallen geübt haben. Ich freute mich wirklich, daß das Training Erfolg gehabt hatte. Beim Shakehands fiel mir auf, daß der Junge, den ich soeben so erfolgreich geschultert hatte, tatsächlich weinte. Ich wollte etwas sagen, doch es ging nicht. Shakehands mit seinem Trainer. Dann in meine Ecke, wo Nils schon auf mich wartete und herumwirbelte. Ich glaube, es hätte nicht viel gefehlt und wir hätten uns geküßt. So guckten wir uns nur für eine lange Sekunde in die Augen und das war mindestens genauso schön. Ich sah das Strahlen und Glitzern in seinen Augen. Er war tatsächlich stolz auf mich. Er zog mich raus aus der Halle nach draußen, hinter den Parkplatz. Es war bitterkalt. Dafür waren seine Küsse um so heißer. Es sollte nie aufhören. Doch leider mußte natürlich jemand zu seinem Auto tapern. Also gingen wir zurück in die Halle. "Mein kleiner Champ", flüsterte er mir zu. Ich gebe zu, daß ich mich auch über den Sieg freue. Aber noch viel mehr freue ich mich darüber, daß Nils sich freut. Das ist kompliziert zu erklären. In der Halle war gerade Mehmet auf der Matte. Ich setzte mich an den Rand und blickte um mich herum. Irgendwann fiel mein Blick auf mein Gegner. Er saß ganz allein in einer Ecke und schien total deprimiert zu sein. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwas zog mich zu ihm hin. Ich kam mir blöd vor, wie ich so vor ihm stand. Er hockte da, den Kopf zwischen seinen verschränkten Armen versteck.
"Ist alles ok mit dir?"
Erst dachte ich, er hätte mich nicht verstanden oder wollte nicht antworten. Aber dann blickte er auf. Ja, er heulte tatsächlich immer noch.
"Es geht schon wieder", sagte er leise.
"Ist dir was passiert? Habe ich dich verletzt?"
"Nein."
Ich verstand nicht, wie ein Junge in seinem Alter so frustriert von einem Kampf sein konnte, daß er eine halbe Stunde lang heult.
"Was ist denn los?" Fast automatisch hatte ich den gleichen Tonfall drauf, als wenn ich mit Lisa redete."
"Es war mein erster richtiger Kampf."
"Ja und?"
"Mein Vater war da und ich habe verloren."
Ich boxte ihn leicht auf die Schulter: "Du warst doch gar nicht so schlecht. Ich habe einfach nur Glück gehabt." Ich kam mir so entsetzlich überheblich vor. Ich, der ich seit einem knappen Jahr erst ringe gebe so einem Jungen, für den das Ganze wahrscheinlich wahnsinnig viel bedeutet, Trost. Das kann doch alles nicht wahr sein. Ich guckte mir das Gesicht von ihm an. Vorher hatte ich gar nicht drauf geachtet sondern immer nur Nils' Regel befolgt, dem Gegner nie in die Augen zu blicken. Nicht daß er wirklich gut ausgesehen hätte. Aber wie er so da saß, mit Tränen in den Augen, so verzweifelt und traurig, sah er total niedlich aus. Ich hätte ihn fast ihn den Arm nehmen wollen, um ihn zu trösten. Es war komisch. So sehr ich mich über meinen Sieg gefreut hatte, so sehr deprimierte es mich auf einmal, diesen Jungen weinen zu sehen. Wie kann man denn sich so in eine Sache reinsteigern? Ich drückte ganz kurz seine Hand: "Es wird schon wieder", wollte ich sagen, aber das war mir wirklich zu platt. Er guckte kurz auf und für eine Sekunde ging ein Lächeln über sein Gesicht. In dem Moment hörte ich, wie jemand meinen Namen rief: "Tim!"
Ich drehte mich um. Es war Benji.
"Was machst du denn hier?"
"Och, wir sind auf Talentsuche und gucken, wen wir für die nächste Saison einkaufen können."
"Ich bin unbezahlbar."
"War gar nicht so schlecht dein Kampf."
"Wie? Hast du ihn etwa gesehen?"
Der Junge, dessen Namen ich nicht einmal kannte, stand auf und trottete davon. Ich hätte irgendwie noch so gerne mit ihm gesprochen.
"Na klar. Nein, warum wir wirklich hier sind, ist daß wir einen Kampfrichter stellen und heute außerdem wettkampffrei haben."
Ich nickte. Was für eine seltsame Welt diese Vereine sind.
Ich sah Nils auf uns zukommen und sah, wie sich mit jedem Schritt sein Blick verfinsterte. "Ok, ich muß leider gehen, mein Coach kommt", sagte ich zu Benji. Er drehte sich um und sah Nils angestiefelt kommen. "Oh, schon einen persönlichen Coach? Respekt!" Er grinste und zottelte ab.
"Was wollte DER denn?"zichte Nils
"Nichts besonderes, er hat meinen Kampf gesehen, das ist alles."
Ich guckte ihn an. War da tatsächlich so etwas wie Eifersucht in seinen Augen?
"Wollen wir gehen?"
"Wie? Bist du schon fertig?"
"Ja, hast du etwa meinen Kampf nicht gesehen?"
"Nein, Shit, wie ist er ausgegangen."
"Ich habe gewonnen", sagte er kurz. So eine Scheiße. Ich muß den Aufruf total versäumt haben, als ich mit diesem Jungen quatschte. Ich schaute Nils an und senkte meinen Kopf: "Entschuldigung", flüsterte ich. "Dafür", sagte er, nahm mich plötzlich in einen Headlock und zog mich zu Boden, "dafür mein Schatz, wirst du heute Nacht büßen." Er grinste. Ich war erleichtert, daß er es doch nicht so dramatisch nahm. Er ließ mich frei.
"Wir können nicht gehen. Die oberen Gewichte sind noch nicht fertig."
"Na und", meinte er, "die kommen auch ohne uns klar."
"Nix da, was macht denn das für einen Eindruck?"
War ICH das, der das gerade gesagt hatte? Ohjeh, ich glaube echt, ich bin auch schon zum Vereinsringer mutiert. Naja, wir warteten auf jeden Fall noch das Ende der Wettkämpfe und der Wertung ab und dann rasten wir los.
"Wir sehen uns", rief er mir zu
Ja wir sehen uns. Gleich kommt mein Nils zu mir. Ich habe meinen Eltern gesagt, daß wir noch zusammen Video gucken und am Computer spielen. Mom hat nur genickt. Yeah und es klingelt. Mein Nils kommt!
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