Sonntag, 26. Januar 1997
26. Januar
"Halt bloß den Mund", zischte Nils mir zu, nachdem ich ihm zugeflüstert hatte, daß ich genau SO eine Karre befürchtet habe. Ein tiefgelegter GTI. Und zu allem Unglück ist Silvios Bruder garantiert der totale Skin. Naja, wir saßen jedenfalls hinten und der Typ ist genauso gefahren, wie ich befürchtet habe: wie eine gesengte Sau. Silvio und er fanden es bestimmt total cool, aber ich dachte ich würde sterben. Irgendwann schrie ich, ob er nicht wenigstens etwas vernünftig fahren könnte. "Halt's Maul du alte Schwuchtel", war alles was er sagte, bevor er eine Bierbüchse aufmachte. Und zum Überholen ansetzte. Ich guckte Nils an. Der zuckte nur mit den Schultern. Als ich wieder nach vorne sah, sah ich die zwei Scheinwerfer auf uns zukommen. Ich schrie irgendwas während Silvio grölte: "Das schaffen wir!" Ich sah die Scheinwerfer immer näher kommen und schloß die Augen. Dann hörte ich Silvio rufen:"Shit!" Kurz danach drehte sich der Wagen um seine eigene Achse und wir wurden hin und hergeschleudert. Und plötzlich war es still. Während ich vorher noch Hupen, quietschende Reifen und Schreien gehört hatte war es auf einmal nur noch totenstill. Oh Gott, du bist tot, dachte ich. Doch ich lebte noch. Ich bewegte meinen Kopf, meine Arme, meine Beine - alles schien in Ordnung zu sein. Ich öffnete die Augen. Es war dunkel, nur das schimmerige Licht vom Armaturenbrett leuchtete schwach. Ich blickte zu Nils. Der starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. "Bist du ok?" fragte ich. Er nickte: "Ich glaube schon." Langsam konnte ich mich wieder orientieren. Ich hörte Enrico fluchen. Wir waren tatsächlich im Graben neben der Straße gelandet, deswegen standen wir so schräg nach vorne über. Von dem anderen Auto, was uns entgegengekommen war, keine Spur. "So eine Scheiße, wie komme ich denn da wieder raus?" Silvio krabbelte aus dem Wagen, Nils und ich hinterher. Es war eiskalt und ich begann zu zittern. Enrico war nur am Fluchen und jammerte, wegen seines kaputten Frontspoilers. Ich fand das ziemlich affig. Ich meine, wir sind gerade mal mit dem Leben davongekommen und er jammert, daß sein Spoiler zerdetscht ist. "Wir sollten die Polizei rufen", meinte ich.
"Bist du völlig bekloppt?!" fuhr Silvio mich an. Nils machte eine Handbewegung und ich verstand. Na klar, so viel Bier, wie Enrico intus hatte war das wirklich keine tolle Idee. Wir versuchten den Wagen wieder auf die Straße zu schieben, aber es klappte nicht, er war viel zu verkeilt im Graben. komischerweise war außer dem Frontspoiler wohl nichts kaputt oder zerbeult. Naja wir sind ja auch (zum Glück) nirgendwo gegen gefahren. Dann fing es auch noch an zu schneien. Es war arschkalt, ich hatte ja auch nur Klamotten für das X1 an und nichts Warmes. Jedenfalls hätte ich mich am liebsten irgendwo an den Straßenrand gesetzt und geheult. Das ging natürlich nicht. "Ich muß den Wagen da raus kriegen", schrie Enrico. Meine Güte ja, aber wenn ich ehrlich bin interessierte mich alles andere viel mehr als dieses dumme Auto. Wir beschlossen, daß es das beste wäre, wenn wir in das nächste Dorf laufen würden und von da irgendjemanden zum Abschleppen anrufen würden. Also taperten Silvio, Nils und ich die Landstraße lang. Ich dachte ich würde sterben, so fror ich. Silvio war permanent am Fluchen und Nils schwieg beharrlich vor sich hin. Nach einer halben Ewigkeit kamen wir in ein Kaff namens Lautern. Total ausgestorben. Aber wenigstens eine Telefonzelle. Silvio telefonierte. Ich bekam nicht mit, mit wem, das war mir eigentlich auch völlig egal. Als er aus der Zelle kam, sah er wenigstens ganz zufrieden aus. Ein Kumpel von Enrico würde mit seinem Jeep vorbeikommen. Als Silvio sich auf den Weg machte, zurück zum Auto zu laufen streikte ich. "Ich gehe keinen Schritt mehr weiter", schrie ich.
"Ach nee, und was willst du dann machen?"
"Ich habe keine Ahnung, aber ich laufe nicht noch mal eine Ewigkeit durch diese Kälte. Hier gibt's bestimmt irgendein Gasthaus oder so." Silvio drehte sich um und murmelte so was wie 'Ach verpißt euch doch' und taperte davon.
Da standen wir, Nils und ich wie zwei begossene Pudel an einer spärlich erleuchteten Kreuzung in irgendeinem schwäbischen Kuhkaff, es schneite und war bitterkalt und wir wußten nicht, wie wir nach Hause kommen sollten. Es dauerte ein paar Minuten, bis wir beide die situation völlig überzuckert hatten. Dann plötzlich lagen wir uns in den Armen. Wir brauchten nichts zu sagen. Wir fühlten einfach wie schön es war, daß der Andere da war. Und wir hatten sogar Glück, wir machten auf Anhalter und das dritte Auto hielt tatsächlich an und brachte uns nach Bergbach. Wir taperten zu Nils. Zu mir konnten wir nicht, jedenfalls nicht so früh. Mum hätte garantiert gefragt, warum ich denn schon wieder zurück bin und dann hätte ich wieder irgendeine Geschichte erfinden müssen. Nils Eltern waren zwar auch da, aber sie fragten nicht. Ich beneidete ihn darum. Nicht immer alles und jeden Schritt erklären und rechtfertigen zu müssen. Die Tür fiel hinter uns ins Schloß. Ich stürzte auf die Heizung zu und setzte mich direkt davor. Obwohl es im Auto auf der Rückfahrt schon etwas wäremer war, fror ich immer noch. Nils warf mir ein Sweatshirt zu. Es roch nach Nils, nach meinem Nils. Langsam kehrte die Wärme wieder in meinen Körper zurück. Ich kriege garantiert eine Erkältung, aber ich merkte, wie es mir wieder besser ging. Nils setze sich neben mich, mit dem Rücken an der Heizung. Seine Hand in meiner. Wir saßen nur so da, den ganzen Rest des Abends, bis ich ging. Ein langer Kuß zum Abschied. Nils, es ist schön, daß es dich gibt!
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