Samstag, 23. November 1996

23. November

"Oh, schön, daß du da bist. Und so püüünktlich."
Miriam öffnete die Tür und flötete in ihrer albernsten Tonlage: "Komm doch rein. Meine Eltern sind nicht da."
Als wenn DAS mich interessieren würde. Welcher Teufel hatte mich eigentlich geritten, hierher zu kommen? Schon aus dieser Entfernung roch ich ihr Parfum und hätte beinahe angefangen zu kotzen. Na toll, das konnte ja was werden. Die Tür fiel hinter mir ins Schloß. Wieder mal wünschte ich mir die Gentlemanerziehung meiner Mutter zum Teufel. Warum hatte ich nicht einfach 'nein' gesagt und basta? Ihr Zimmer sah so aus wie ich mir ein typisches Jungmädchenzimmer vorstelle. Nicht daß ich viele Jungmädchenzimmer kennen würde. Eigentlich kenne ich gar keines. Aber wenn, dann wäre DAS der Prototyp: weiß, rosa, hellgrün. Es sah aus wie kitschiges Eis. Ergänzt wurde das alles durch allen möglichen Kram, der sich auf jedem freien Platz breitmachte: Plüschtiere, ein lila Porzellankerzenhalter, ein Glasschwan, alles unnütze Staubfänger. Und natürlich, Pferdebilder. Pferderbilder? Ich dachte bisher immer, daß so was für Mädchen aus der Grundschule wäre. Als Gegengewicht gab es Bilder von Take That an der anderen Wand.
"Möchtest du etwas trinken?"
"Himmel nein!" rutschte es mir raus.
Verzweifelt starrte ich auf ihren Plüschtierzoo. Ich kramte meinen Matheordner raus. Wir setzen uns nebeneinander. "Also, paß auf, das Wichtigste ist...", ich begann mit meinem Redeschwall. Vielleicht, so dachte ich mir, wenn ich ihr so viel wie möglich erkläre und das auch noch ganz kompliziert, verliert sie die Lust.
"Und was kommt dann auf dieser Seite der Gleichung raus?"
Statt zu antworten guckte sie mich verträumt an. Shit, ich kam mir vor wie in einem schlechten Film. "Sag du es mir."
Unsere Arme berührten uns. Ich rutschte zum äußersten Ende des Schreibtischs. "Das kann doch nicht so schwer sein!" Ich kam mir vor wie ein Lehrer vor einer Klasse mit lauter Dumpfbacken.
"Ach, warum kannnst du das so gut?"
"Was weiß ich."
Ruckartig stand ich auf und ging zum Fenster. Was machte ich hier eigentlich? Bin ich denn schon völlig verblödet? Ich sitze hier bei einem Mädel mit klimpernden Augen in einem Waldmeister-Eis-Zimmer und erkläre Mathe-Formeln. Und ein paar Ecken weiter sitzt der Junge meiner Träume! Warum war ich bloß in diese Falle gegangen? Ich starrte hinaus. Es hatte zu regnen begonnen. Und sie fing an zu reden. Ich stand da am Fenster, blickte auf die trübe Straßenlaterne und brummte vor mich hin. Ich ging alle möglichen Entschuldigungen durch wie ich mich davon machen konnte. Plötzlich verstummte sie: "Tiiim, du sagst ja gar nichts!"
"Ich höre halt zu!" Das war glatt gelogen.
"Ach endlich mal ein Junge, der zuhört", seufzte sie. Ich merkte schon, daß hier schwereres Geschütz her mußte, nur was?
"Ich hole uns was zu trinken", flötete sie. Ja, ja, mach nur, dachte ich. Und dann, fast wie die Kavallerie in letzter Minute hörte ich unten die Tür klappen: "Miriam, wir sind wieder da!" Ah, Jubel, ihre Eltern kamen. Ich hörte sie so was murmeln wie: "Wieso seid ihr denn jetzt schon da. Ach ja, ihr wißt ja ich habe Besuch." Die Antwort bekam ich nicht mit. Wenn das nicht die ideale Gelegenheit war, um zu gehen. Ich griff meinen Rucksack, stopfte meinen Ordner rein und ging nach unten. "Das ist Tim aus meiner Klasse, wir haben Mathematik gelernt. Er ist nämlich der absolute Spezialist." Ach ich war ihren Eltern ja so dankbar und deshalb war ich natürlich der Charme in Person. Dummerweise sezten sie dieses typische 'Das-ist-aber-ein-netter-Junge-den-hätten-wir-gerne-als-Schwiegersohn-Lächeln' auf.
"Willst du schon gehen?"
"Ja, ich muß. Ich habe meiner Mutter versprochen, noch, äh, den Rasen zu mähen."
"Junge, es regnet doch."
Kein Mensch mit Sinn und Verstand, käme wahrscheinlich auf die Idee, im November Rasen zu mähen.
"Wir haben so einen skandinavischen Rasen, den kann man nur mähen, wenn es regnet." Ich log das Blaue vom Himmel herunter.
"Schade, daß du schon gehen mußt. Aber wir können uns ja in den nächsten Tagen noch mal treffen."
Ich lächelte gequält. Miriam lächelte zurück. "Also Tschüß." Noch ehe ich mich versah, hatte sie mir einen Kuß gegeben. "Ich hab dich gern", hauchte sie. Ich griff panisch zu Türklinke. Endlich ich war draußen. Miriams Gequake war endlich verstummt, doch WAS war passiert? Ich trat in den Regen und öffnete meinen Mund. Wie konnte ich diesen entsetzlichen Geschmack von Vanille und Lippenstift wieder wegbekommen? Ich rannte los. Einfach durch den Regen, um jeden Gedanken an dieses Mädel aus meinem Kopf zu verbannen. Als ich völlig außer Atem anhielt, bemerkte ich, daß ich genau vor Nils' Haus stand. Nils, mein Nils, jetzt, genau jetzt brauche ich dich, dachte ich, als ich klingelte. Seine Mutter öffnete: "Hallo Tim. Willst du zu Nils? Der ist nicht da."
"Wo ist er denn?" ich merkte wie meine Stimme merkwürdig schrill klang.
"Er wollte noch mal zur Halle, glaube ich."
Ich nickte und rannte wieder los. Ich rannte mir die Lunge aus dem Leib. Ich meine, ich kann schon laufen, wenn es sein muß eine ganze Stunde. Aber das Tempo, was ich jetzt rannte war zu heftig. Völlig kaputt und durchnäßt kam ich an der Trainingshalle an. Doch Nils war nicht da, weder in der Halle noch in der Umkleide. Niemand konnte sich erinnern, Nils heute schon dort gesehen zu haben. Ich setzte mich auf den Treppenabsatz und begann zu heulen. Ich begann tatsächlich zu heulen. Ich weiß überhaupt nicht wieso eigentlich. Vielleicht war das alles zu viel für mich. Alles was im Moment passiert.

"Was sitzt du denn hier draußen im Regen?" Das war Werner. "Du bist ja völlig durchnäßt!"
Ich erzählte ihm, daß ich einfach ein bißchen gelaufen wäre und daß es dann angefangen hätte zu regnen. Er bot mir an, mich nach Hause zu fahren, was ich dankbar annahm.
"Ich habe gehört, du kämpfst nächste Woche."
Ich nickte. Wo hat er denn das gehört? Dieser Verein ist wirklich ein offenes Buch. "Ja und hinterher kann ich mich einsargen lassen."
"Wieso?"
"Naja ich glaube ich bin einfach noch nicht so weit."
"Wann glaubst du denn, daß du so weit bist? Du brauchst Erfahrung und Erfahrung bekommst du nur im Wettkampf. Nicht im Training. Wenn du die ersten Kämpfe verlierst, was soll's? Irgendwann gewinnst du."
"Das sieht Dimitri bestimmt anders."
"Das sieht er nicht anders. Würde er dich sonst aufstellen? Er ist halt manchmal wie ein roher Klotz. Aber im Grunde ist er ein feiner Kerl."
Ich schwieg. Mochte ja sein, aber mir war nicht danach, immer den feinen Kerl hinter einem rohen Klotz zu suchen. Wir waren angekommen. "Ich drücke dir jedenfalls die Daumen."

"Eine Miriam hat für dich angerufen", rief mir Mom als ich noch nicht mal richtig drin war.
"Sie wollte nur wissen, ob du gut angekommen bist."
"Hat sonst noch jemand angerufen? Nils vielleicht?"
"Nein, aber vielleicht kannst du und dein Vater ja mal diese ISDN-Anlage richtig programmieren, daß die Gespräche auch da ankommen, wo sie sollen. Ich habe auch was Besseres zu tun, als ständig die Telefonsekretärin für dich zu spielen."
Ich warf die Zimmertür hinter mir zu. Ich starre auf das Telefon und warte, daß er anruft. Doch nichts, nichts passiert. Nils, wo bist du?

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