Montag, 30. September 1996

30. September

"Kreis!"
Dimitris Standardkommando. Ringen ist schon eine seltsame Sportart. Es ist mir am Anfang gar nicht so sehr aufgefallen. Aber irgendwie sind wir alle wie eine verschworene Gemeinschaft. Ich meine, selbst in diesem noblen Tennisverein in Hamburg guckte ab und zu mal jemand rein, schaute beim Training zu, man quatschte ein bissel. In die Ringerhalle verirrt sich kaum jemand mal einfach so. Und wenn wird er meistens mißtrauisch angeblafft und verschwindet wieder. Ich gehöre dazu, ich bin im Team. Aber mir fällt es trotzdem auf. Wie auch immer, ich habe es den ganzen Tag geschafft, Nils aus dem Weg zu gehen, ihn nicht anzugucken. Sogar beim Training habe ich nur mit Florian und Max trainiert. Wir waren fertig und schon auf dem Weg zur Umkleide, als er mich von hinten am Arm packte und rumdrehte: "Los, auf die Matte mit dir", sagte er ganz ruhig aber total bestimmend.
Ich war so verdattert, daß ich ihm gehorchte. Erst als ich schon im Innenkreis stand kam mein Verstand zurück: "Was zum Teufel..."
"Los runter, auf den Bauch. Ich will dir was zeigen."
"Nein, verdammt noch mal. Spielst du hier wieder den großen King oder was?"
"Ich hab gesagt runter, na los." Seine Stimme war total cool, gerade das regte mich noch mehr auf. "Du hast ja ne Macke", schrie ich ihn an und wollte mich umdrehen. Doch er war schneller als ich. Ehe ich mich versah hatte er mich am Arm gepackt, meine Beine weggerissen und ich lag auf dem Bauch. Ich spürte Nils über mir. Ich war stinkwütend.
"Hab dich verdammt noch mal nicht zu zickig, ich will dir was zeigen", zischte er mir zu. Ich spürte seinen Atem an meinem Ohr. Mir war in diesem Augenblick überhaupt nicht klar, was er mir zeigen wollte, aber ehrlich gesagt, interessierte es mich nicht. Ich war so sauer, daß ich es schaffte, mich unter ihm zu befreien und in die Oberlage zu kommen.
"Hast du jetzt endlich genug?" fragte ich ihn. Ich weiß, daß das total albern war. Ich hatte Glück gehabt. Normalerweise ist es für Nils ein leichtes, mich zu schultern. Ich ließ ihn los und wollte aufstehen. Und er dreht sich blitzschnell um, greift mich und ich liege schon wieder auf dem Bauch. Doch diesmal wird mir schwarz vor Augen. Ich kriege fast keine Luft mehr, Nils liegt mit seinem vollen Gewicht auf mir drauf und ich weiß überhaupt nicht, wie ich atmen soll. Nichts mehr mit abschütteln, mit hochbocken oder umdrehen. Jeden Millimeter Luft brauche ich, um überhaupt atmen zu können. "Dein Gewicht", höre ich Nils in mein Ohr säuseln, "dein Gewicht ist ein ganz wichtiges Ding beim Ringen. Du mußt rauf auf deinen Gegner. Damit er sich so wenig wie möglich bewegen kann. Er muß immer merken, daß du da bist. Und wenn du dein Gewicht auf ihm drauf hast, dann hat er genug damit zu tun, Luft zu holen und du bist im Vorteil." Er läßt mich los. Meine Güte, ich hätte nie gedacht, daß ein Mensch so schwer sein kann, der genauso viel wiegt wie ich. "Du hättest am Samstag fast gewonnen. Wenn du es so gemacht hättest wie ich eben. Rauf auf den Gegner. Statt dessen hast du das gemacht, was ich beim ersten Mal mit dir gemacht habe. Du hast mehr neben ihm gelegen als auf ihm. Völlig klar, daß er da kontern kann."

Ich sehe ihn an. Und mir wird klar, mit welcher Energie er versucht, es mir zu erklären. Und plötzlich ist meine ganze Wut weg. Scheiße, warum nur? Es ist, als wenn ein kleines Kind ganz aufgeregt von einer ganz großen Sache erzählt. Alles andere ist bedeutungslos, es gibt nur noch diese eine Sache. Und für Nils gibt es nur das Ringen. Dann vergißt er alles. Und ich sitze staunend davor und bewundere ihn heimlich, wie er es schafft, alles andere einfach beiseite zu schieben. Ich mußte grinsen.
"Was ist los?"
"Nichts, mir ist nur gerade was eingefallen."
"Ich gebe dir hier eine unbezahlbare Privatstunde und du grinst", sagte er scherzhaft und warf sich auf mich. Wir drehten uns ein paarmal lachend auf dem Boden und plötzlich war alles wieder wie früher. Nils half mir auf: "Na los, genug für heute." Doch eigentlich, eigentlich könnte ich davon nie genug bekommen.

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