Dienstag, 10. September 1996

10. September

"Ich glaube, der Neue ist eine Schwuchtel."
Beinahe hätte ich die Hantel fallengelassen. Ich hatte Mühe, nicht aufgeregt zu klingen: "Wieso?"
"Na hast du mal gehört, wie der redet?"
"Ja und?"
"Der klingt doch total tuntig."
In diesem Moment hätte ich Nils am liebsten eine reingehauen. Was bildet dieser Penner sich eigentlich ein? Erstmal glaube ich nun wirklich absolut nicht, daß Markus schwul ist. Und tuntig klingt er auch nicht, finde ich. Shit, wie kommt Nils nur auf so bekloppte Ideen?
"Ist mir noch nicht aufgefallen." Shit, warum fällt mir immer nur so ein Blödsinn als Antwort ein?
"Doch, du mußt mal darauf achten, wenn er aufgeregt ist, wie er dann mit den Händen rumfuchtelt. Das sieht total tuntig aus."
"Du scheinst ja da der absolute Spezialist zu sein." Oha, der hatte gesessen. Nils' Gesichtsausdruck veränderte sich von einer Sekunde auf die andere. Sein Blick wurde eiskalt und purer Haß sprühte aus seinen Augen: "Was willst du damit sagen? Willst du etwa sagen ich wäre so eine verdammte Schwuchtel?" Er packte mich am T-Shirt, zog mich hoch und drückte mich gegen die Wand. Wo war dieser Blick, in den ich mich vor so langer Zeit verliebt hatte? Nichts, alles an ihm war nur noch eiskalt. Zum Glück sah uns niemand. Ich war so verdattert über seine Reaktion, daß ich nur noch "Nein" stammeln konnte. Er ließ mich los und trainierte weiter, als wäre nichts geschehen. In mir stieg die Wut hoch. Ich weiß gar nicht, worüber ich wütender war. Über ihn oder über meine eigene Feigheit. Nein es war wieder diese Demütigung, dieses absolute Gefühl der Hilflosigkeit. Ich griff mein Handtuch und ging in die Umkleide. Das hatte ich nicht nötig, mich so behandeln zu lassen. Nils kam mir hinterher. "Hey, was ist denn los?" Wie kann ein Mensch nur so bekloppt sein? "Was los ist? Hey, mach das nie wieder mit mir, ok?"
"Ach komm, das war doch nichts."
"Nichts? Ich sag dir was. Wenn du das noch ein einziges Mal machst, dann hau ich dir eine rein."
Zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich die totale Verwirrung in Nils' Augen. Ich glaube, er merkte, daß ich es ernst meinte. Und meine Wut schmolz dahin, je unsicherer er wurde. Doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich wollte weiterhin wütend auf ihn sein. Und eigentlich habe ich auch allen Grund dazu. Ich meine, damit daß er nicht schwul ist, habe ich mich ja schon abgefunden. Daß er aber nun solche Sprüche ablassen muß, das trifft mich total. Ja Nils, ich, ich - dein Freund Tim - bin so eine verdammte Schwuchtel so wie du das nennst. Was sagst du nun? So eine verdammte Schuchtel, die dir das nächste Mal tatsächlich eine aufs Maul haut, wenn du sie wieder so demütigst. Shit! Solche Antworten fallen mir immer hinterher ein. Obwohl, ich glaube ich würde sie niemals in Wirklichkeit loslassen. So eine Scheiße, ich habe auf dem Heimweg tatsächlich geheult und ich heule immer noch.

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