Montag, 2. März 1998

2. März

"Was haben deine Eltern eigentlich gesagt?"
"Wozu?"
"Dass wir nach Berlin fahren."
"Ich habe ihnen noch gar nichts davon gesagt." Shit! Natürlich, ich kann ihnen ja schlecht sagen, dass ich mit meinem Freund zusammen nach Berlin zur größten Schwulenparade fahre. In meinem Kopf arbeitete es.
"Hast du deinen Eltern schon was gesagt?"
"Ja, ich habe gesagt, dass ich nach Luckenwalde zum Probetraining fahre."
"Nach Luckenwalde. Zum Probetraining. Das stimmt doch jetzt nicht. Oder doch? Hat sich doch jemand gemeldet von den Sichtungskämpfen?"
"Nein."
"Du lügst also deine Eltern an."
"Ja natürlich. Jetzt tu doch nicht so überrascht. Das machst du doch genau so. Andauernd. Oder erzählst du ihnen, was mit uns ist? Was wir im Bett machen?"
Das ist schwierig. Natürlich hat er recht. Aber irgendwie ist das doch etwas anderes, eine Sache zu verschweigen, nicht die ganze Wahrheit zu sagen oder eben ganz direkt anlügen.Von einer Minute auf die andere war meine gute Stimmung weg.
"Ich könnte natürlich mal in Luckenwalde fragen, ob wir da ein Probetraining mitmachen können. Dann gehen wir erst zum Probetraining und hinterher zur Parade."
"Und ich werde ganz bestimmt zusammen mit dir in die Bundesligamannschaft von denen aufgenommen."
"Vielleicht ja als mein persönlicher Assitent."
"Das könnte dir so passen." Ich warf mich auf Nils und wir rollten halb kichernd, halb ernsthaft auf der Matte rum bis Mahmout dazwischen ging: "Ihr hab nachher noch genug Zeit, euch auszupowern. Jetzt begrüßt erst mal unseren Neuzugang."
Schon wieder jemand Neues, dachte ich, hoffentlich nicht wieder so ein Schnuckel wie Marcel, der sich dann als halber Arsch entpuppt.
"Das ist Walter", stellt Mahmout den Neuen vor.
"Walter. So, so", gluckste Kevin und fing sich dafür einen bösen Blick vom Trainer ein.
Walter sah gar nicht so aus als würde er Walter heissen. Er war etwa genau so groß wie ich und so wie ich das einschätzen konnte war er wahrscheinlich sogar in der gleichen Gewichtsklasse. Walter kam also aus Kasachstan, oder Usbekistan, oder Lampukistan... jedenfalls aus irgendeinen dieser stan-Länder, die plötzlich überall auftauchten. Jedenfalls in meiner Wahrnehmung. Wieso heißt jemand von dort Walter?
Mahmout teilte ihn mir jedenfalls als Trainingspartner zu. "Na dann viel Spaß", Nils grinste, was ich erst gar nicht verstand. "So schlecht wird er ja wohl nicht sein", meinte ich.
Ich sollte recht behalten. Aber nicht so, wie ich eigentlich gedacht hatte. Und mir wurde klar, warum Nils so gegrinst hatte.
Walter ist... ich weiss gar nicht wie ich das beschreiben soll, er ist eisenhart. Schon beim Einfädeln merkte ich, dass er jede Bewegung total präzise und sehr energisch machte. Als es dann an das Trainings des ersten Griffs ging, bekam ich fast keine Luft mehr, so heftig packte er zu.
"Hey, langsam, das ist doch nur Grifftraining."
"Tut mir leid. Ich kann mich nicht immer so bremsen."
"Ach ja", rief Mahmout in die Runde, "Walter war übrigens ein paar Mal Jugendmeister in seiner Heimat."
Das war es also. Na toll. Nils, hatte wohl so was geahnt, deshalb hatte er so gegrinst. Und ich hatte das ganze Training über so einen Crack als Trainingspartner, wo jeder Griff, den er ansetzte weh tat. Nicht dass er wirklich brutal war. Aber alles was er machte war so präzise, die Kraft war so auf den Punkt. Und dann war sein Körper so merkwürdig hart, dass allein schon jeder Kontakt mit ihm weh tat.
Ich war jedenfalls froh als das Training mit ihm vorbei war. Auf einen Sparringskampf habe ich gleich ganz verzichtet.
"Na, hat er dich am Leben gelassen?"
"Ich glaube, morgen tut mir alles weh."
"Dann nimm halt eine Tablette Ibu bevor zu Schlafen gehst und höre auf zu jammern."
"Du hast gut reden, du hast ja nicht mit ihm trainiert."
"Aber jetzt", meinte Nils, stand auf und ging zu Walter rüber.
Du meine Güte, dachte ich. Das muss doch jetzt nicht sein. Aber es war ein richtig ausgeglichener Kampf. Das was Nils an Kraft und Härte fehlte, machte er tatsächlich durch seine diversen Techniken und seine Wendigkeit wieder wett. Am Ende hatte jeder von beiden einen Kampf gewonnen.
"Hat Spaß gemacht", sagte er als er sich neben mich auf die Matte fallen ließ. Und ich glaubte ihm das sogar. Mein kleiner verrückter Nils. Endlich hat er mal einen vernünftigen Gegner im Training.

Auf dem Heimweg unterhielten wir uns darüber, was wir alles in Berlin an dem Wochenende machen würden. Bestimmt gibt es eine Party nach der Parade. Oder mehrere. Ich bin wieder total aufgeregt. Und ich werde Mom und Dad sagen, dass wahrscheinlich ein paar Leute vom Verein planen, im Juni nach Luckenwalde zu einem Probetraining zu fahren und dass ich ganz gerne mitfahren würde. Natürlich würde ich nicht zum Probetraining gehen, dafür wäre ich schließlich viel zu schlecht. Und so hätte ich jedenfalls nicht ganz gelogen, nicht ganz richtig. Oder so.

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