Samstag, 6. Dezember 1997

"Warum hast du dich denn so zickig gehabt am Telefon?"
"Zickig?"
"Na erst wolltest du nicht kommen, dann doch, aber nicht in die Tofa. Warum hast du nicht einfach gesagt, daß du gar nicht kommen willst?"
"Ich wollte doch kommen. Bin ich jetzt da oder nicht? Also. Was soll das überhaupt, ich und zickig?"
"Ach vergiß es. Du bist ja mindestens ebenso empfindlich wie ich."
Das regte mich jetzt genau so auf, aber ich sagte nichts sondern schielte zur Tür. Nils würde nicht kommen, da konnte ich mir ziemlich sicher sein. Nils geht so gut wie nie in die Alte Schmiede, Nils mag nicht Billard spielen, Nils mag kein Weizen, Nils mag den Laden sowieso nicht. Also, was schielte ich zur Tür? Und wenn er kommt. Na und? Kann ich mich nicht einfach irgendwo in einer Kneipe mit einem anderen Typen treffen? Einfach nur zum Quatschen, ohne irgendwas anderes? Ok, dieser Typ ist ein stadtbekannter Schwuler. Stadtbekannt, so ein Unsinn. Aber immerhin schulbekannt. Na und? Unsinn und Blödsinn gesammelt. Ich werde es Nils sowieso sagen, daß ich Jonas getroffen habe. Also was soll's.
"Tim? Tim!"
"Sorry, war gerade woanders."
Jonas warf mir einen langen prüfenden Blick zu: "Ist es dir unangenehm, mit mir hier zu sitzen? Ist es dir unangenehm, hier mit einem Schwulen an einem Tisch zu sitzen?"
Jeez, der Typ ist ja noch abgedrehter als ich.
"Wäre ich sonst gekommen?" Meine Stimme klang genervt. Nicht nur meine Stimme.
"Sorry, vielleicht bin ich ja wirklich ein wenig komisch in der letzten Zeit."
"Ich weiß ja nicht, wie du vorher warst."
Jonas begann zu erzählen. Und ich hörte zu. Seltsamerweise hörte ich zu und mir ist bis jetzt noch jedes Wort im Gedächtnis. Es war seltsam, ich genoß es, einfach nur zuzuhören, ab und zu mal zu nicken, eine kurze Zwischenfrage zu stellen und ihn reden zu lassen. Ich langweilte mich nicht. ER langweilte mich nicht. Auf eine merkwürdige Weise fand ich alles, was er erzählte, interessant. Ich fand es schön, auch mal nichts zu einem Gespräch beisteuern zu müssen. Nach einer Stunde kannte ich die Geschichte seiner Familie, nach zwei Stunden wußte ich, wie es ihm bisher auf dem CaZe gegangen ist und nach drei Stunden alles über sein Schwulsein und sein Comingout. Und alles, alles interessierte mich. Dieser komische Typ erzählt mir seine Lebensgeschichte und ich höre zu und finde sie auch noch interessant.
"Und du?"
"Was und ich?"
"Warum sitzt du hier? Ein Hetero sitzt hier mit mir den ganzen Abend zusammen und hört sich meine Geschichten an. Warum?"
"Warum nicht?" Ich schwankte hin und her. Sollte ich es ihm sagen? Warum? Warum nicht? Ich sollte ehrlich sein. Ich sollte ehrlich zu ihm sein. Wenn ich nicht ehrlich anderen Schwulen gegenüber bin, wem denn dann überhaupt?
Jonas blickte mir wieder in die Augen. Ich wollte seinem Blick ausweichen, aber es ging nicht. "Wann hast du das letzte Mal mit einem Mädchen gevögelt?"
Ich wollte ihm sagen, daß ich diese Frage absolut prollig fand, aber es ging nicht. Ich riß mich von seinem Blick los. Wie viele Bier hatte ich schon? Vier, fünf oder mehr? Das Schlimme an diesem Zeugs ist, daß man nicht mehr schnell genug denken kann, wenn es darauf ankommt.
"Wann?"
"Bis jetzt noch gar nicht", antwortete ich trotzig.
Auf seinem Gesicht war eine Spur von Triumph zu sehen.
"Und?"
"Was und?"
"Warum nicht?"
"Was 'warum nicht'?"
"Tim, laß doch dieses bekloppte Spielchen."
Das Spiel war wirklich bekloppt, nur daß es gar kein Spiel war. Das war ernst. Warum hatte ich mich eigentlich so komisch? Habe ich es nicht Doris gesagt? Phil, Robert und sogar dieser komische Boris wissen es. Warum nicht Jonas? Der ehrliche Jonas, der mir den ganzen Abend von sich erzählt hat? Ich weiß auch nicht wieso. Aus irgendeinem Grund wollte ich es ihm nicht so leicht machen.
"Hat sich das inzwischen beruhigt mit den Leuten in deiner Stufe? Ich meine, reden die wieder mit dir?"
Es war ein billiger Versuch, doch er schien zu klappen.
"Das nötigste eben. Es ist ja nicht so, daß sie mir direkt aus dem Weg gehen oder gar nicht mehr mit mir reden. Aber es ist einfach so, daß ich merke, daß ich nicht mehr dabei bin, nicht mehr IN der Group. Ich werde zu keiner Party mehr eingeladen, man fragt nicht mehr, wenn sie zusammen irgendwo hingehen, ob ich mitkommen will."
Es klappte, ich hatte die Kurve gekriegt, ihn von dem Thema Tim abgebracht. Er redete wieder drauflos. Ich atmete auf.
"Also es ist so eine seltsame Distanz, du fühlst sie. Sie ist da. In jedem Gespräch, in jeder Begegnung. Naja, jedenfalls bei den meisten Leuten aus meiner Stufe. Ich sag dir, oute dich bloß nie hier an der Schule, nicht an DIESER Schule, nicht hier in Bergbach."
"Ganz bestimmt nicht. Nicht bevor ich an der Uni bin."
Jonas sagt nichts. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, warum nicht. Bis mir klar wird, WAS ich da gesagt habe. Jonas grinst nicht. Er schaut mich einfach nur an. SHIT! So ein Arsch. Und ich tapere voll in seine Falle. Kein Zurück mehr, kein 'Ich habe es eigentlich gar nicht so gemeint'. Nix da! Jonas' Gesicht ist ausdruckslos, noch immer kein Grinsen, kein Lächeln, kein Ausdruck von Triumph wie vorhin. Und trotzdem lese ich in seinen Gedanken dieses 'Ich habe es doch gewußt'. Schweigen. Endloses Schweigen. Endlich unterbrochen von der Kellnerin, die fragt, ob wir noch was trinken wollen. Ich will und ich will nicht. Ich bestelle ein Bier. Ich könnte aufstehen und gehen. Ich mache es nicht. aber ich kann nichts sagen. Ich weiß nicht was ich sagen soll. Zum Glück spricht Jonas, endlich.
"Warum tust du dich so schwer? Warum denkst du denn, mußt du mir gegenüber eine Rolle spielen?"
"Ich spiele keine Rolle." Mein alter Trotz kehrt zurück, doch er ist schwach. 'Rückzugsgefecht' würde Doris sagen.
"Vielleicht hast du ja recht. Vielleicht ist ja deine Art, damit umzugehen, besser. Jedenfalls hast du keinen Streß mit den Leuten aus deinem Semester. Weiß es irgend jemand?"
Keine Frage mehr, ob es überhaupt so ist. Keine Diskussion. Resistance is futile.
"Ein paar Leute, eine gute Freundin, mein Bruder, ein Typ aus Stuttgart, ein Typ in Köln und natürlich mein Freund."
"Wow, eine ganze Menge Leute. Und die halten alle dicht?"
"Ja doch, Mann. Warum sollten sie nicht?"
"Wer ist dein Freund? Sag bloß, das ist wirklich dieser arrogante Sportheini."
Und ich tappte natürlich gleich wieder in die nächste Falle: "Nils ist nicht irgendso ein Sportheini und er ist nicht arrogant. Überhaupt nicht. Er ist der liebste Junge den ich kenne." Das klang ziemlich albern, aber mir war inzwischen alles egal.
"Hey, ist ja schon gut. Mein Gott, du läßt dich aber schnell auf die Palme bringen, was? Auf jeden Fall herzlichen Glückwunsch. Ein Freund, und dann noch auf DIESER Schule. Jetzt gibt's also schon drei von uns hier. Vielleicht sollten wie eine schule Schüler-AG gründen."
"Du hast ja ein Rad ab."
"Siehst du, das meine ich. Du rastest immer gleich aus. Das war doch nicht ernst gemeint. Das war ein Joke!"
"Laß uns gehen. Mich nervt der Laden hier langsam. Laß uns noch in die Tofa gehen."
"In die Tofa. Jetzt? Da kommscht nimmer rein um die Zeit, es ist halb eins."
"Ich komme rein, wetten?"
Jonas zuckte mit den Schultern. Ich stand auf, fühlte mich merkwürdig leicht.
"Du hast ein Auto?"
"Ja, na klar. Also dann los."
Ich dachte nicht darüber nach, daß er bestimmt genauso viel Bier getrunken hatte wie ich. Ich weiß auch nicht mehr genau, wie wir überhaupt zur Tofa gekommen sind. Ich weiß nur, daß er auf dem Parkplatz fluchte, weil sein Rückwärtsgang nicht ging und er deshalb nicht richtig einparken konnte. Ich weiß, daß ich mir schon eine so tolle Story für die Türbodies ausgedacht hatte und daß ich gar nichts zu sagen brauchte, weil sie uns ohne Probleme reinließen. Freitag Abend. Tofa. Nils könnte hier sein. Nils würde nie ohne mich in die Tofa gehen. Aber vielleicht Flo? Irgendwer war bestimmt da. Eine Scheißhaus-Idee mit Jonas in die Tofa zu fahren. Auf so was kommt man nur, wenn man total bebiert ist.
Ich laufe Flo direkt in die Arme. Das heißt nicht in die Arme, höchstens in einen Arm denn im anderen hält er dieses Ina-Mädel.
"Hey, was machst du denn hier? Wer ist denn noch von uns hier? Nils?"
"Keine Ahnung, bin gerade erst gekommen. Wolltest du nicht heute ins MickMack?" Ich wunderte mich über mich selbst, daß ich mir das noch gemerkt hatte.
"Ja, da waren wir, war aber öde. Irgendeine Öko-Combo hat geschrammelt. Also sind wir hierher gezogen."
Wie auf Stichwort zog das Mädel an seinem Arm, weil es etwas trinken wollte.
"Wir sehen uns."
Und schon war er im Gewühl verschwunden. Jonas kam mit zwei Beck's an. Mir war nach tanzen. Und ich ging tanzen, tanzte eine halbe Ewigkeit. Jonas stand erst amüsiert am Rand doch dann tanze er mit. Ich dachte an nichts, an gar nichts mehr. Mein Kopf war so schön leer, ganz ohne Tanztabletten war ich irgendwo davongeschwebt, bis irgendwann meine Beine nicht mehr mitmachten und ich mich an die alte Schalttafel lehnte.
"Zeit zu gehen", lächelte mich Jonas an. Er kam mir auf einmal wie ein großer Bruder vor. Wie Phil und doch ganz anders. Ich nickte widerstandslos. Draußen war es arschkalt, die Heizung in seinem Prolo funktionierte nicht, ich klapperte echt mit den Zähnen. Ich lotste ihn durch das nächtliche Bergbach.
"Alles klar?", fragte er, als wir bei mir vor dem Haus standen.
"Ich denke schon, die paar Meter bis in mein Bett finde ich."
"Na dann, take care."
Ich taperte zur Tür, drehte mich noch einmal um, sah wie Jonas grinste. Dann winkte er mir zu, wendete und fuhr davon.
Mein Bett, mein Bett. Endlich schlafen.

Um kurz vor sechs wachte ich auf. Ich mußte aufs Klo und hatte tierischen Durst. Auf dem Flur stolperte ich über Lisas Schuhe. Mist, Nikolaus. Hätte ich fast vergessen. Ich steckte ihr mein Nikolausgeschenk in ihre Schuhe und taperte zurück in mein Zimmer. Legte Brian Eno ein und konnte nicht mehr einschlafen. Kann nicht mehr einschlafen. Der Abend geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich fühle mich seltsam frisch, auch nach nur zwei Stunden Schlaf.

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