Dienstag, 12. August 1997

12. August

"Mein Gott, was ist denn daran so wild?"
"So wild? Ich bin beinahe irre vor Angst geworden. Ich habe dich gesucht. Die halbe Nacht."
Ich war aufgewacht, irgendwann mitten in der Nacht. Wie jedesmal in den letzten Tagen streckte ich meine Hand nach Nils aus, um mich an ihn zu kuscheln. Doch er war nicht da. Ich tastete weiter, doch da war kein Nils. Ich lag allein im Bett, Nils war nicht da. Erst dachte ich, er wäre im Bad, aber da war er auch nicht. Er war einfach verschwunden. Ich machte Licht an, guckte auf die Veranda: Nichts. Ich suchte nach einem Zettel: Nichts. Wo war er? Wo war Nils? Ich lief unruhig auf und ab. Er tauchte nicht auf. Rasch zog ich mir etwas an und taperte durch die Feriensiedlung. Alles schlief, war ruhig. Kein Nils. Ich ging zu den Restaurants. Zum Strand. Nirgendwo eine Spur von ihm. Ich wurde richtig panisch. Wo war er? Was ist passiert? Warum verschwindet er auf einmal? Ich hatte Angst. War er zur Badeinsel hinausgeschwommen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Jedenfalls nicht nach dem Ding von gestern. Ich ging zurück in's Haus. Vielleicht war er ja inzwischen zurückgekommen. Aber da war kein Nils. Niemand war da. Plötzlich war ich ganz alleine in diesem winzigen Bungalow, der mir auf einmal riesig groß erschien. Ich hielt es nicht lange aus und rannte wieder hinaus, zum Strand. Da saß Nils plötzlich, auf der Mole.
"Was machst du denn hier, mitten in der Nacht?"
"Nachdenken."
"Nachdenken? Worüber denn? Du kannst doch nicht einfach so abhauen." "Ich bin nicht abgehauen. Ich bin nur ein bißchen an die Luft gegangen. Mein Gott, was ist denn daran so wild?"
"So wild? Ich bin beinahe irre vor Angst geworden. Ich habe dich gesucht. Die halbe Nacht."
"Kann ich denn nicht einfach mal nachdenken. Ganz alleine, in Ruhe?"
Ich stand reichlich bedeppert da. Worüber mußte Nils nachdenken? Über uns? Über unsere Freundschaft?
"Mach doch nicht so ein Gesicht, Tim. Bitte, es ist nichts. Komm, setz' dich hin."
Er zog mich zu sich hinunter.
"Hast du das nicht auch manchmal, solche Momente, wo du einfach nur deine Ruhe haben willst, einfach nur anschaltest, nachdenkst? Über alles, alles, was dir so durch den Kopf geht."
"Ja schon, aber, daß du auch so was hast."
Nils grinste: "Weißt du, was egozentrisch bedeutet?"
"Na klar."
"Ich glaube, du bist der egozentrischste Mensch, den ich kenne. Alles, was du machst, ist richtig, alles, was du machst, ist ok. Aber wehe, jemand anderes macht das. Dann verstehst du nichts mehr."
Ich schwieg. Und ich habe Angst, daß er Recht hat. Er nahm mich in den Arm: "Es ist ok so, wie du bist, wirklich. Aber vielleicht habe ich ja auch meine Macken, genauso wie du."
"Ich will dich doch einfach nur nicht verlieren. Ich hab solche Angst gehabt, als du nicht da warst."
"Es tut mir leid, ich hätte dir was schreiben können. Aber ich habe nicht gedacht, daß du plötzlich aufwachst, mitten in der Nacht."
"Willst du, daß ich dich alleine lassen, zum Nachdenken?"
"Nein, bleib' hier. Wir bleiben hier sitzen und gucken uns den Sonnenaufgang an. Keinen kitschigen Sonnenuntergang. Sondern einen kitschigen Sonnenaufgang. Das hat bestimmt noch niemand gemacht."
Es war einfach nur schön. So eine Stimmung habe ich noch nie erlebt. Nils und ich saßen auf der Mole, Schulter an Schulter, das Meer schwappte an die Felsen. Langsam wurde es heller, von irgendwoher kam das Licht. Dann färbte sich alles um uns herum in ein rötliches Orange. Und dann, ganz plötzlich tauchte die Sonne aus dem Meer auf. Die Möwen begannen zu schreien und es war, als wenn die Welt auf einmal anfing zu laufen. Wie eine Maschine, die anfängt zu arbeiten. Es war nicht kitschig, es war einfach nur schön, toll, super, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich glaube, ich habe in dem letzten Jahr so viele schöne Augenblicke erlebt, aber dieser Sonnenaufgang war wirklich das Schönste. Kein Mensch auf der Welt ist glücklicher als ich.

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