Montag, 17. März 1997

17. März

"Du warst richtig gut heute."
Ein Lob. Ein Lob von Dimitri. Ich fasse es nicht. "Du scheinst langsam Kampfgeist zu entwickeln", meinte er und nickte anerkennend. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt oder ein Feuer angezündet. Ich merke, wie es in mir kocht. Ich weiß nicht, was es ist. Ist es Wut? Jedenfalls merke ich, wie plötzlich nie gekannte Energien in mir hochkommen. Ich setzte meine gesamte Kraft ein und schaffte es sogar meinen Trainingsgegner zu schultern. Ohne große Probleme. Und ich sprühte hinterher noch vor Energie. Vielleicht ist es wirklich Wut. Wut auf diese ganze verlogene Scheiße, die um mich rum ist. Wut darauf, daß ich dazu verdammt bin, Theater zu spielen. Daß ich meinen Freund nur heimlich in den Arm nehmen kann. Es ist doch total ungerecht, daß alle Heterojungs mit ihrem Göcken umher marschieren und sie wie Jagdtrophänen präsentieren und ich mich mit meinem Nils verstecken muß. Wer denkt sich so was aus? Wer unterstützt so was? Das kann doch irgendwie nicht das Ding sein, wie es die nächsten Jahre weitergeht. Vielleicht mein Leben lang. Ich habe in dem 'Schwul na und'-Buch nachgelesen, aber die Sachen da helfen mir auch nicht weiter. Ach ja, es ist ja alles so toll, das was sie Coming Out nennen. Die Typen reden mit ihren Eltern, mit ihren Freunden und die meisten reagieren ganz toll. Super, wirklich, das hilft mir jetzt echt weiter. Und wer nicht toll reagiert, den kann man eben abschreiben. Auch super. Also dann kann ich vermutlich 99% der Leute, die ich kenne abschreiben. Und was mir am meisten Angst macht: Wahrscheinlich Nils auch. Denn der hat noch viel größere Angst als ich. Je mehr ich darüber nachdenke, desto verwirrter werde ich. Beim Umziehen sitze ich da, starre Löcher in die Luft. Bin mit meinen Gedanken irgendwo und nirgends. Irgendwann eine Stimme: "Tim?"
Vor mir steht Florian und schaut mich fragend an. "Äh, willst du das Training der 1. Mannschaft gleich mitmachen?"
Er ist fix und fertig angezogen, die anderen sind schon gegangen und ich sitze immer noch auf meiner Bank und starre in die Gegend.
"Äh nein", erwidere ich und beeile mich beim Umziehen.
"Was ist eigentlich los mit dir? Du bist so komisch in der letzten Zeit."
"Bin ich das?"
"Ja. Du bist immer ganz woanders. Und immer wieder total aggressiv und rastest aus."
Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Ich wußte nur, er hatte recht. Aber was sollte ich sagen? statt dessen guckte ich ihn nur an. Da stand also ein Heterojunge und erzählte mir was davon, wie komisch ich bin.
"Gibt es vielleicht was, worüber du reden willst?"
Ich schüttelte den Kopf. Was wollte er denn? Wollte er mich aushorchen? Oder wollte er einfach nur nett sein? Wieso?
"Ist schon ok. Ist nur im Moment ein bißchen viel alles für mich", antwortete ich und boxte ihn freundschaftlich auf die Schulter. Yo, das war's dann. Easy-Tim hat die Situation wieder im Griff. Alles locker, alles easy. Keine Probleme. Scheiß drauf. Draußen vor der Halle wartete schon Nils. "Wo warst du denn?"
"Ich habe irgendwie verpennt. War mit meinen Gedanken woanders."
Nils nickte. "Was passiert mit uns?" fragte er.
"Ich habe keine Ahnung. Ich weiß es nicht."
"Wir werden es irgendwann unseren Eltern sagen müssen, nicht wahr?"
"Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht wann, ich weiß nicht wie, und ich weiß verdammt noch mal eigentlich auch gar nicht warum."
"Vielleicht können wir ja", sagte er, während er das Etikett seiner Gatorade-Flasche abpfriemelte, "wenn wir mit dem Abi fertig sind, eine eigene Wohnung nehmen. So als WG, irgendwo in Stuttgart."
Das verblüffte mich. Er, Nils redete davon, aus Bergbach wegzugehen. Zusammen in eine Wohnung zu ziehen. Aber gleich schob er nach: "Es braucht ja niemand zu wissen, daß wir schwul sind. Ich meine, aber wir wären wenigstens zusammen."
Ich schaute ihn an. Blickte ihm in die Augen. In diese Augen, in denen ich immer wieder versinke, eintauche und schwebe. Ich versuche in ihnen unsere Zukunft zu sehen. Alles, was ich sehe ist Liebe. Tatsächlich, ganz viel Liebe und Wärme. Ich nahm ihn in den Arm. Es war mir in diesem Moment scheißegal, ob uns jemand sah. Und offenbar ging es ihm genauso. Wir drückten uns und hielten uns so fest, bis wir beide keine Luft mehr bekamen. "Ich laß dich nie mehr los", flüsterte er in mein Ohr.

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