Sonntag, 9. Juni 1996

9. Juni

15:10
»Kannst du vielleicht einmal vorher Bescheid sagen oder anrufen, wenn du wieder mal eine ganze Nacht wegbleibst?«
Mom und Dad sind sauer. Meine Güte, hätte ich sie mitten in der Nacht um 3 Uhr anrufen sollen? Na schönen Dank.

Degendorf ist das absolute Kaff. Wenigstens kann man sich da nicht verlaufen. Wahrscheinlich war das ganze Dorf zum Vereinsfest, jedenfalls kannte jeder jeden. Na ja, und es waren nicht nur Ringer da, sondern scheinbar alles, was in dem Verein so rumrennt, Fußball, Turnen, Tischtennis. Ich kam mir am Anfang schon etwas blöd vor, weil das Ganze schon voll im Gange war und ich niemanden kannte. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich Benji gefunden hatte. Als er mich sah, stürmte er auf mich zu, hob mich hoch, drehte mich ein paar Mal herum und grölte: »Hey, unser Neuzugang aus Bergbach!« und ließ mich dann wieder runter. Ich wußte nicht, ob ich das komisch finden sollte oder sauer war. Na ja, so wußte nun mindestens die Hälfte der Leute, wer ich war. Irgendwie müssen mich alle wohl für den absoluten Exoten gehalten haben: Wow, Bergbach. Aber sie haben ziemlich verdattert geguckt, als ich erzählt habe, daß ich noch gar keinen Wettkampf mitgemacht habe und nicht schon mal irgendein Meister von irgendwas geworden bin. So wie Benji, der wohl schon zigmal Württembergischer Meister geworden ist. Pff, na und? Dann begann mich Benji irgendwelchen Mädels aus der Turnabteilung vorzustellen. Die kicherten nur blöde, und ich wäre am liebsten wieder abgehauen. Doch er plazierte mich neben einer dickbusigen Blonden und meinte, ich solle sitzenbleiben, er würde gleich was zu essen bringen. Meine Gott, kam ich mir blöd vor. Das Mädel, Stefanie, stellte wieder mal die üblichen Standardfragen. Na ja, es ging dann doch, wir unterhielten uns eine ganze Weile. Nur Benji kam natürlich nicht wieder zurück. Und so zottelten Stefanie und ich dann selber los, um was Eßbares und was zu trinken aufzutreiben. Irgendwann begann dann diese sogenannte Jugenddisco unter freiem Himmel. Na ja, das war ja nun der absolute Krampf. Das Erwachsenenvolk hatte sich allmählich abgesetzt, und der Möchtegern-DJ spielte nur so einen Mist wie »Macarena« oder »Captain Jack«.

Wenigstens hatte jemand ein Faß Bier besorgt, das machte das Ganze noch halbwegs erträglich. Jedenfalls habe ich noch eine Weile mit Peter gesprochen, Er meinte, er wäre auch ein »Freshman« (wow, was für ein Wort) und ob wir nicht mal zusammen trainieren wollten. Ich habe ihm gesagt, daß Degendorf nun doch ein Stück von Bergbach weg liegt, aber da er nicht aufhörte, hab ich ihm eben meine Telefonnummer gegeben. Ich muß wohl auch schon ziemlich breit gewesen sein, denn ich kann mich nicht mal mehr an sein Gesicht erinnern. Gegen zwei tauchte dann die gesammelte Elternschaft wieder auf und beteiligte sich am Abbau und machte Stunk wegen dem Bier. Es schien aber alles irgendwie perfekt organisiert zu sein. Alle Leute wuselten rum, jeder lud etwas in irgendein Auto, und innerhalb kurzer Zeit war der ganze Festplatz leer. Ich glaube, mir wäre es absolut peinlich gewesen, wenn Mom und Dad nach so einem Fest auftauchen und alle gemeinsam abbauen. Na ja, in Degendorf scheinen aber alle eine große Familie zu sein. Schließlich standen Benjamin und ich ziemlich alleine auf der Wiese.
»Wie kommst du denn wieder zurück?«
»Mit dem Bus.«
»Witzbold, der erste Bus fährt erst um sechs.«
»Keine Ahnung, dann trampe ich eben.«
»So ein Quark, du kannst bei mir pennen, mein Vater bringt dich dann morgen früh nach Hause.«
Die Idee hatte ja was, also willigte ich ein. Wir gondelten also mit Benjis Vater durch das nächtliche Degendorf, luden die Tische bei der Freiwilligen Feuerwehr ab und landeten schließlich bei Benji zu Hause. Dann hievten wir eine Matratze in Benjis Zimmer. Wir quatschten noch eine bißchen, und Benji meinte, daß Stefanie mich voll total niedlich gefunden hätte und daß er ihr meine Nummer gegeben hat. Na toll, aber ich war einfach zu müde und zu breit, um mich aufzuregen. Außerdem hatte ich damit zu tun, woanders hinzugucken als zu Benji, der nur in seinen Boxershorts auf seinem Bett lag. Dann schlief er ein, fing an zu schnarchen, und ich war hellwach.

So eine Scheiße. Da lag ich mit meinem Ständer neben Benji und konnte nicht mehr einschlafen. Ich mußte irgendwas machen. Also habe ich mir so leise, wie es ging, einen runtergeholt. Als ich wieder aufwachte, war es schon nach neun. Mein Kopf dröhnte, und ich rannte erstmal aufs Klo, um mein Bier von gestern loszuwerden. Benji schlief noch, als ich wieder in sein Zimmer kam. Er hatte eine Morgenlatte. Auf was hatte ich mich da bloß eingelassen? Ein paar Meter weiter wuselten Benjis Eltern durch die Gegend, und hier sind zwei fast nackte Jungs mit einem Ständer im Raum. Ich beeilte mich, meine Klamotten zu finden, und zog mich so leise wie möglich an. Doch Benji wachte auf: »Na, gut gepennt?«
»Ging so«, sagte ich
Dann bemerkte er seinen Ständer und kriegte wohl auch mit, daß ich hingeguckt habe. Er bekam einen knallroten Kopf und griff sich die Decke.
»Ich geh schon mal vor«, sagte ich und beeilte mich, aus diesem Zimmer zu kommen.
»Na, alles wieder frisch?« grinste Benjis Vater.
»Geht so, der Kopf dreht sich noch etwas.«

Nach einer Tablette und einer riesigen Portion Flakes ging es mir dann besser. Benji kam raus, zum Glück vollständig angezogen. Aber er hatte immer noch einen roten Kopf und guckte immer wieder verstohlen zu mir rüber. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, daß er sich keine Gedanken zu machen braucht, aber das ging ja nun nicht, weil seine Eltern dabei waren. Na ja, jedenfalls hat mich dann sein Dad nach Hause gefahren. Benji meinte noch zum Abschied, er würde mich heute noch anrufen. Na ja, mal sehen.

Ich überlege mir gerade, ob Benji von meiner nächtlichen Aktion was mitbekommen hat. Aber eigentlich glaube ich das nicht, jedenfalls nicht so, wie er geschnarcht hat. Shit, aber was hätte ich tun sollen, ich war so geil. Jetzt werde ich erstmal ein bissel in den Garten gehen und etwas auf Familie machen, damit Mom und Dad sich wieder etwas beruhigen.

21:30
Ächz, ich glaub, ich hab mir heute einen Sonnenbrand eingefangen. Den ganzen Nachmittag war ich im Garten, hab mich gesonnt, mit Lisa gespielt, Dad beim Reparieren vom Rasenmäher geholfen (wir haben's zum Glück nicht hinbekommen!). Mom und Dad haben sich jedenfalls wieder beruhigt. Sie meinten nur noch, ich soll das nächste Mal wenigstens auf den Aba sprechen, damit sie wissen, wo ich bin, man weiß ja nie, was so alles passieren kann, na ja, und so weiter. Pfff, als wenn hier auf dem Land irgendwas passieren könnte. Komisch, in Hamburg waren sie nicht so komisch, na ja, was soll's.

23:05
Gerade hat Benji angerufen. Er hat ziemlich rumgedruckst. Er stotterte so was wie: »Wegen heute morgen, also nicht daß du denkst, ich wäre irgendwie, na ja, äh anders...« Ich hätte am liebsten laut losgeprustet. statt dessen hab ich ihn beruhigt und ihm gesagt, daß mir das morgens auch immer so geht, na ja, und so ein Blabla halt. Es schien ihm auf jeden Fall unheimlich wichtig zu sein, daß ich ihn nicht für schwul halte. Diese Hetero-Jungs! Wenn er wüßte!

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