Donnerstag, 13. Juni 1996
13. Juni
»Heute gibt es mal ein etwas anderes Training.«
Statt Dimitri war heute Werner, der Trainer der 1. Männermannschaft, da. Kein Rumgebrülle wie in der Kaserne, das war ganz o.k. Außerdem hat er uns die Griffe absolut super gezeigt, aus allen Lagen und Stellungen. Aber es war tierisch anstrengend. Zuerst habe ich es gar nicht gemerkt, aber es wurde immer heftiger, und nach drei Stunden waren wir alle total fertig, sogar Nils.
»Das war etwa ein Zehntel von dem, was wir in der Ersten machen.«
Ach ja? Na toll, ich wollte sowieso nicht in die Bundesliga. Ich frage mich, wie man so was überhaupt aushalten kann. Ich saß völlig ausgelaugt auf der Bank in der Umkleide, als Nils reinkam. Er schien wieder total frisch zu sein, beneidenswert: »Don't say we didn't warn you!«
»Ach ja?« Ich bekam einen Hustenanfall.
»Na ja, wird schon, war wirklich heftig heute.«
Florian kam rein: »Tim! Du sollst noch mal reinkommen.«
Ich guckte Nils an, aber der zuckte nur mit den Schultern: »Keine Ahnung, vielleicht darfst du die Matte fegen.«
»Du bist der Neue, stimmt's?« fragte Werner.
»Na ja, nicht mehr ganz so neu.«
»Aber du hast vorher nie irgendeinen Kampfsport gemacht, oder?«
»Nein!«
»Na o.k., dann zeige mir mal, was du bisher gelernt hast.«
»Wie jetzt?«
»Na, du sollst mich mal angreifen.«
Ich dachte echt, der Typ hat ein Rad ab. Er war doch mindestens 30 Kilo schwerer als ich und der absolute Crack. Ich stand da und hatte tierisch Schiß.
»Wenn du nicht angreifst, dann greife ich eben an.«
Ich ging zurück und er schob mich quer über die Matte. Ich wußte überhaupt nicht, was ich überhaupt machen sollte, ich hätte bei diesem Koloß nie irgend einen Griff ansetzen können.
»O.k., lassen wir das«, sagte er und setzte sich hin. »Was ist Ringen?«
»Ausdauer, Kraft und Technik«, leierte ich runter, das hatte ich von Nils schon oft gehört.
»Aber zuerst ist es ganz etwas anderes.«
Ich schwieg, weil ich nicht wußte was er sagen wollte.
»Das erste beim Ringen ist, daß du deine Angst überwinden mußt.«
»Welche Angst?«
»Die Angst vor deinem Gegner, die Angst vor dem Kampf, die Angst vor der Auseinandersetzung.«
»Hmmm.«
»Wovor hast du Angst?«
Das werde ich dir gerade auf die Nase binden, dachte ich, aber ich sagte: »Ich weiß nicht.«
»Angst ist wichtig. Sie schützt uns, denn sie läßt uns in bestimmten Situationen vorsichtig handeln. Aber Angst kann dich auch lähmen, sie kann dich total blockieren. Und erst wenn du es schaffst, im richtigen Moment deine Angst zu überwinden, bist du wirklich ein Ringer. Es ist völlig egal, wie groß und schwer dein Gegner ist, wieviele Titel er hat. Du musst rausgehen auf die Matte und das alles vergessen. Wenn du das kannst, wird dir das auch im Leben draußen viel helfen. So, und zum Schluß der Vorlesung zeige ich dir noch mal an einem praktischen Beispiel, was ich meine. Hole noch mal einen von den Jungs raus.«
Ich taperte in die Umkleide. Nils nur im Boxershorts stand vor mir. O.k., Nils, dachte ich, jetzt kommt deine Stunde der Angst: »Du sollst noch mal rauskommen.«
»Etwa so? Und wofür überhaupt.«
Diesmal zuckte ich mit den Schultern: »Vielleicht zum Mattenfegen.«
Er zog sich sein Trikot über und ging mir hinterher.
»O.k.«, sagte Werner, »dann paß mal gut auf.« Und zu Nils sagte er nur: »Standkampf.«
Und Nils griff an. Einfach so, ohne zu zögern griff er diesen Riesen an. Nils hatte keine Chance, aber er war nicht schlecht, und er gab nicht auf. Mir dämmerte, was Werner sagen wollte. Als sie fertig waren, sagte er zu mir: »Das war sozusagen nur die Einführung. Denk einfach ein bissele drüber nach.«
»Was war denn?« fragte Nils, als wir wieder in der Umkleide waren. Die anderen waren schon weg.
»Er hat mir was erklärt.«
»Und was?«
»Ich weiß nicht, ich glaube, ich muß erst mal darüber nachdenken.«
Nils guckte mir in die Augen. Es war wieder dieser Blick, in den ich versinken konnte.
Was hatte Werner eben gesagt? Keine Angst? Verdammt noch mal, ja, ich könnte Nils jetzt einfach umarmen, ihn küssen. Vielleicht würde das alles viel einfacher machen. Shit, aber nein.
»Na, dann denk mal nicht zu lange nach«, riß mich Nils aus meinen Gedanken, »die anderen sind schon in der Pizzeria.«
»Geh' schon mal, ich komme nicht mit.«
Nils zog die Stirn kraus: »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja! Wirklich! Ich muß heute nur über was nachdenken.«
»Na o.k., wir sehen uns morgen.« Nils verschwand.
Meine ganz eigene Liste:
Wovor ich Angst habe:
– Daß jemand rauskriegt, daß ich schwul bin
– Niemanden zu haben
– Daß jemandem aus meiner Family was passiert
– Alleine zu sein
–
So ein Mist, das hat doch alles nichts mit dem Ringen zu tun, also noch mal:
Wovor ich Angst habe:
– Schmerzen zu haben
– Mich zu verletzen
– Mich zu blamieren
– Nicht mehr zu wissen, wie es weitergeht
– Zu verlieren
O.k., aber was macht man jetzt dagegen? Das hätte ich Werner eigentlich fragen müssen.
Statt Dimitri war heute Werner, der Trainer der 1. Männermannschaft, da. Kein Rumgebrülle wie in der Kaserne, das war ganz o.k. Außerdem hat er uns die Griffe absolut super gezeigt, aus allen Lagen und Stellungen. Aber es war tierisch anstrengend. Zuerst habe ich es gar nicht gemerkt, aber es wurde immer heftiger, und nach drei Stunden waren wir alle total fertig, sogar Nils.
»Das war etwa ein Zehntel von dem, was wir in der Ersten machen.«
Ach ja? Na toll, ich wollte sowieso nicht in die Bundesliga. Ich frage mich, wie man so was überhaupt aushalten kann. Ich saß völlig ausgelaugt auf der Bank in der Umkleide, als Nils reinkam. Er schien wieder total frisch zu sein, beneidenswert: »Don't say we didn't warn you!«
»Ach ja?« Ich bekam einen Hustenanfall.
»Na ja, wird schon, war wirklich heftig heute.«
Florian kam rein: »Tim! Du sollst noch mal reinkommen.«
Ich guckte Nils an, aber der zuckte nur mit den Schultern: »Keine Ahnung, vielleicht darfst du die Matte fegen.«
»Du bist der Neue, stimmt's?« fragte Werner.
»Na ja, nicht mehr ganz so neu.«
»Aber du hast vorher nie irgendeinen Kampfsport gemacht, oder?«
»Nein!«
»Na o.k., dann zeige mir mal, was du bisher gelernt hast.«
»Wie jetzt?«
»Na, du sollst mich mal angreifen.«
Ich dachte echt, der Typ hat ein Rad ab. Er war doch mindestens 30 Kilo schwerer als ich und der absolute Crack. Ich stand da und hatte tierisch Schiß.
»Wenn du nicht angreifst, dann greife ich eben an.«
Ich ging zurück und er schob mich quer über die Matte. Ich wußte überhaupt nicht, was ich überhaupt machen sollte, ich hätte bei diesem Koloß nie irgend einen Griff ansetzen können.
»O.k., lassen wir das«, sagte er und setzte sich hin. »Was ist Ringen?«
»Ausdauer, Kraft und Technik«, leierte ich runter, das hatte ich von Nils schon oft gehört.
»Aber zuerst ist es ganz etwas anderes.«
Ich schwieg, weil ich nicht wußte was er sagen wollte.
»Das erste beim Ringen ist, daß du deine Angst überwinden mußt.«
»Welche Angst?«
»Die Angst vor deinem Gegner, die Angst vor dem Kampf, die Angst vor der Auseinandersetzung.«
»Hmmm.«
»Wovor hast du Angst?«
Das werde ich dir gerade auf die Nase binden, dachte ich, aber ich sagte: »Ich weiß nicht.«
»Angst ist wichtig. Sie schützt uns, denn sie läßt uns in bestimmten Situationen vorsichtig handeln. Aber Angst kann dich auch lähmen, sie kann dich total blockieren. Und erst wenn du es schaffst, im richtigen Moment deine Angst zu überwinden, bist du wirklich ein Ringer. Es ist völlig egal, wie groß und schwer dein Gegner ist, wieviele Titel er hat. Du musst rausgehen auf die Matte und das alles vergessen. Wenn du das kannst, wird dir das auch im Leben draußen viel helfen. So, und zum Schluß der Vorlesung zeige ich dir noch mal an einem praktischen Beispiel, was ich meine. Hole noch mal einen von den Jungs raus.«
Ich taperte in die Umkleide. Nils nur im Boxershorts stand vor mir. O.k., Nils, dachte ich, jetzt kommt deine Stunde der Angst: »Du sollst noch mal rauskommen.«
»Etwa so? Und wofür überhaupt.«
Diesmal zuckte ich mit den Schultern: »Vielleicht zum Mattenfegen.«
Er zog sich sein Trikot über und ging mir hinterher.
»O.k.«, sagte Werner, »dann paß mal gut auf.« Und zu Nils sagte er nur: »Standkampf.«
Und Nils griff an. Einfach so, ohne zu zögern griff er diesen Riesen an. Nils hatte keine Chance, aber er war nicht schlecht, und er gab nicht auf. Mir dämmerte, was Werner sagen wollte. Als sie fertig waren, sagte er zu mir: »Das war sozusagen nur die Einführung. Denk einfach ein bissele drüber nach.«
»Was war denn?« fragte Nils, als wir wieder in der Umkleide waren. Die anderen waren schon weg.
»Er hat mir was erklärt.«
»Und was?«
»Ich weiß nicht, ich glaube, ich muß erst mal darüber nachdenken.«
Nils guckte mir in die Augen. Es war wieder dieser Blick, in den ich versinken konnte.
Was hatte Werner eben gesagt? Keine Angst? Verdammt noch mal, ja, ich könnte Nils jetzt einfach umarmen, ihn küssen. Vielleicht würde das alles viel einfacher machen. Shit, aber nein.
»Na, dann denk mal nicht zu lange nach«, riß mich Nils aus meinen Gedanken, »die anderen sind schon in der Pizzeria.«
»Geh' schon mal, ich komme nicht mit.«
Nils zog die Stirn kraus: »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja! Wirklich! Ich muß heute nur über was nachdenken.«
»Na o.k., wir sehen uns morgen.« Nils verschwand.
Meine ganz eigene Liste:
Wovor ich Angst habe:
– Daß jemand rauskriegt, daß ich schwul bin
– Niemanden zu haben
– Daß jemandem aus meiner Family was passiert
– Alleine zu sein
–
So ein Mist, das hat doch alles nichts mit dem Ringen zu tun, also noch mal:
Wovor ich Angst habe:
– Schmerzen zu haben
– Mich zu verletzen
– Mich zu blamieren
– Nicht mehr zu wissen, wie es weitergeht
– Zu verlieren
O.k., aber was macht man jetzt dagegen? Das hätte ich Werner eigentlich fragen müssen.
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