"Was ist los?"
Ich war kaum aus dem Haus, da traf ich auf Doris.
"Das kann ich dir nicht sagen. Aber mir geht es nicht so schlecht, wie man eigentlich glauben sollte."
"Dann KANNST du es mir doch sagen."
"Ich muß das selbst erst mal kapieren. Echt."
"Meine Güte. Machst du das aber kompliziert."
Ich hatte keine Lust mehr auf ein Versteckspiel. "Nils hat mich betrogen."
"Maria und Josef! Männer!"
"Bist du wohl still! Soll es vielleicht noch die ganze Siedlung erfahren?"
"Ihr seid echt Kinder. Wann werdet ihr eigentlich mal erwachsen? Das ist
doch kein Sandkastenspiel. Mal hier ein bißchen rummachen, mal da. Ist
das bei euch Schwulen so?"
Ich war kurz davor, ihr eine runterzuhauen. Statt dessen sagte ich: "Ich verzeihe ihm."
Doris guckte mich an. Erst verdutzt, dann neugierig und dann kniff sie
die Augen zusammen: "Tim Berger, warum werde ich plötzlich den Verdacht
nicht los, als wenn dir das sehr recht kommt?"
"Was soll denn das? Was willst du damit sagen?" Diesmal war ich es, der schrie.
"Hast du ihm gesagt, daß du ihm verzeihst?"
"Nein, noch nicht."
Doris schüttelte den Kopf. "Ich werde nicht schlau aus dir, Tim. Das
heißt, ich werde schlau, oder ich glaube es wenigstens. Und das, was ich
mir denke, gefällt mit nicht, das gefällt mir überhaupt nicht."
"Moment mal, bin ich fremdgegangen, oder er?"
"Ihr beide, darf ich dich an Heiko erinnern?"
"Jetzt ist er fremd gegangen. Und ich verzeihe ihm. Gerade WEIL die Sache mit Heiko war. Da kann ich ihm keine Szene machen."
"Ist das der einzige Grund?"
"Vielleicht verzeihe ich ihm ja auch, weil ich ihn liebe?"
"Vielleicht. Ich würde mir wünschen, daß es so ist. Und? Gibt es noch einen Grund?"
"Was meinst du? Was denn noch für einen Grund?"
"Tu nicht so. Du weißt GENAU, was ich sagen will."
Ich schwieg. Ich wollte nicht antworten. Ich KONNTE nicht antworten. Ich weiß doch selber nicht, was los ist.
Deutsch, zusammen mit Nils. Wir nicken uns kurz zu. Er sieht schlecht
aus. Hat tatsächliche dunkle Ringe unter den Augen. Ich möchte ihn in
den Arm nehmen. Doch das geht natürlich nicht in der Schule. So wenig,
wie ich bislang von der Schule mitgekriegt habe, so sehr stürze ich mich
plötzlich darauf. Neue Leute, die ich bisher nur aus den
Parallelklassen kannte, sind jetzt in meinen Kursen. Ich versuche, mich
abzulenken. Und merke doch, was es für eine seltsame Situation ist. Ich
hänge in der Luft. Nils hängt in der Luft.
Große Pause. Markus will, daß ich irgendeinen Skateboard-Trick
nachmache. 'Wenn ich dich auf einem Skateboard erwische, gibt's Prügel'
hatte Nils gesagt. Ich stelle mich nicht auf's Board. Nicht, daß ich
tatsächlich Angst vor Prügel hätte.
Nils schafft es, für die restlichen Stunden und Pausen unsichtbar zu bleiben.
Ich komme nach Hause, das Telefon klingelt.
"Und?" Es war Doris.
"Nichts und."
"Warum redest du nicht mit ihm?"
"Ich habe ihn nicht mehr gesehen in der Schule. Ich habe gleich Training."
"Ihr habt Training, nehme ich an."
"Ja doch."
"Tim, spiel' nicht mit ihm."
"Ich spiele nicht mit ihm. Verdammt noch mal. Mein Freund hat mich
betrogen. Und du machst MIR Vorwürfe? Was ist denn das für eine
verkehrte Welt? Als nächstes sagst du mir noch, daß ich Schuld daran
bin, daß er mit anderen Typen rummacht."
Ich legte auf. Ich weiß echt nicht mehr, was los ist. Langsam kommt die
Wut in mir hoch. Vielleicht die Wut, die mir in den letzten Tagen
gefehlt hat.
Training. Ich überlege, ob ich hingehen soll. Doch ich entscheide mich dafür. Was soll ich davon laufen.
Training. Nils ist nicht da. Nils nicht beim Training. Wo ist Nils? Ich
weiß es nicht. Ist er bei Sascha? Hatte er nicht gesagt, daß da nichts
mehr ist? Nein, ich weiß nicht wo Nils ist. Vielleicht kommt er noch,
keine Ahnung. Mahmouts Training ist hammerhart. Mahmouts Griffe sind
hammerhart und schnell. Ehe ich denken kann, kriege ich keine Luft mehr
und mir ist, als würde jede Rippe einzeln brechen. Ich fliege durch die
Luft und schon ist er wieder da. Warum bin ich wieder der Testdummy?
Während Dimitri vor allem riesig, groß und massig war, ist Mahmout
klein, flink, sehnig, hat einen Griff, von dem man sich nicht so schnell
erholt und ist vor allem überall. Aber er erklärt gut, tausendmal
besser als Dimtitri und er ist geduldig. Ende des Trainings. Ich bleibe
sitzen. Gehe nicht mit den anderen. Und obwohl die Halle nicht leer ist,
komme ich mir auf einmal total einsam vor. Hier war ich das erste Mal
mit Nils zum Training. Und es ist, als wenn ich ein Musikvideo sehen, in
dem Szenen aus der Vergangenheit auftauchen. Momente mit Nils.
Glückliche Momente, Momente, wo ich sauer auf ihn war, wütend, wo wir
uns gestritten haben. Ich hatte auf ihn eingeprügelt. Und dann kommt mir
plötzlich Heiko in den Sinn. Wie er auf einmal da stand. Einfach nur so
und mich der Blitz getroffen hatte. Dann dieses liebe und doch
unverschämte Grinsen, als ich ihn geschultert hatte, als er mich hatte
gewinnen lassen. Was war hier schon alles passiert? Was wird hier noch
passieren? Diese Halle, dieses Matte. Wie eine kleine Welt für sich. Die
große Kampffläche in der Mitte. Hier spielt sich alles ab, das Leben.
Die rote Zone. Paß auf, Passivität, Verwarnung, Mattenflucht. Nur nicht
flüchten, sonst bist du draußen...zurück in das Zentrum. Aktion, kein
Stillstand, nur kämpfen. Ist es das, das Leben? Immer nur kämpfen? Immer
nur Aktion? Muß ich immer und immer wieder um irgendwas kämpfen?
Ich ziehe mich um. Im Vorraum rufe ich Nils an. Er ist zu Hause. Nicht
bei Sascha. "Ich will dich sehen", sagte ich, "in einer halben Stunde im
Park." Mehr nicht.
Ich bin unsicher, ob er kommt. Doch er kommt.
"Du warst nicht beim Training."
"Nein."
Tolle Unterhaltung. So konnte es doch nicht weitergehen. Ich nahm ihn
einfach in den Arm, drückte ihn ganz an mich und hielt ihn fest. Ganz
fest. Nils, mein Nils. Wir brauchten nichts zu sagen. Absolut nichts.
Und wieder klammerten wir uns aneinander wie zwei Ertrinkende. Und
wieder ertranken wir nicht, außer in unseren Tränen. "Take me in your
arms and hold me close."
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