"Tim, kann ich dich mal sprechen?"
"Meine Güte, ja doch, was ist denn?"
"Nicht hier, laß uns mal rausgehen."
"Du machst das aber auch wat geheimnisvoll, was ist denn los?" Ich griff
meine Jacke und wir gingen in den Garten. Es hatte in den letzten
Stunden heftig geschneit und alles sah wieder total kitschig aus. Der
Schnee dämpfte alle Geräusche und ich hätte mich nicht gewundert, wenn
jetzt noch irgendwo Weihnachtsbäume gestanden hätten.
"Also, was ist denn?"
Flo druckste rum: "Du mußt mir aber versprechen, daß du nicht sauer bist, wenn ich dich jetzt was frage."
"Meine Güte, ich werde gleich sauer, wenn du noch weiter rumeierst. Also, was ist los?"
Flo schaute mich an und mir wurde auf einmal ziemlich mulmig. Dann holte
er tief Luft und fragte: "Kann es sein, daß du schwul bist? Ich meine
du und Nils, seid ihr schwul?"
Bin ich eigentlich für alle auf dieser Welt ein offenes Buch? Wie kommt
Flo darauf, daß ich schwul bin? Daß Nils und ich schwul sind? Ich will
irgendeine dumme Gegenfrage stellen. Irgend etwas nach dem Motto: Wieso
willst du das wissen? Aber ich weiß, daß das alles nur hinauszögern
würde. Ich könnte es abstreiten. Ich könnte sagen, daß er sich irrt. Daß
Nils und ich nicht schwul sind sondern nur gute Freunde. Ich könnte
sehr glaubwürdig ausrasten, ihm an den Kopf werfen, daß er spinnt und
ihn einfach stehen lassen. Alles das ging mir durch den Kopf. Aber es
war irgendwie klar, daß ich das alles NICHT machen konnte. Flo war so
was wie mein bester Freund. Mein bester Hetero-Freund. Verdammt, was
sollte ich machen. Ich versuchte innerhalb von zwei Sekunden zu
entscheiden, was richtig war. Ich beschloß, daß es nicht ohne Gegenfrage
ging. Einen Augenblick mehr Zeit, nur einen Moment noch: "Wie kommst du
da drauf?"
"Ich weiß nicht. Wenn man euch beide anguckt. Wie ihr miteinander
umgeht, redet, wie ihr euch anguckt. Da kommt man ganz automatisch auf
die Idee, daß ihr schwul seid."
"Du scheinst dich ja da super auszukennen." Ich weiß nicht, wieso ich so aggressiv antwortete.
"Ich kenne mich da nicht aus, wenn du das meinst. ICH bin nicht schwul.
Ich dachte mir ja schon, daß du sauer reagierst." Er drehte sich um und
ging wieder ins Haus. Verdammt, was sollte ich machen? Warum nur bin ich
so feige? Warum sage ich es nicht einfach?
"Warte! Flo, es tut mir leid, ich wollte nicht sauer reagieren. Echt
nicht." Ich guckte ihm in die Augen. Flo, gar nicht mehr so flippig, wie
ich ihn kennengelernt habe. Ich habe in den fast zwei Jahren gar nicht
gemerkt, wie ernsthaft, wie erwachsen er geworden ist. Ich nicke: "Du
hast recht, ich bin schwul."
Flos Gesicht bleibt unbewegt, als er fragt: "War das nun so schwer?"
"Was?"
"War das wirklich so schwer, mir das zu sagen?"
"Ja doch, verdammt noch mal ja."
"Wieso?"
"Wieso? Ich verstehe deine Frage nicht? Wieso das schwer ist? Ja was
glaubst du denn? Glaubst du, man kann hier so einfach rumlaufen, hier in
der Schule, im Verein und allen Leuten erzählen, daß man schwul ist?
Glaubst du das echt? Du bist wirklich ein Hetero. Ein Hetero mit null
Plan."
"Aber wir sind befreundet. Du hättest es mir sagen können. Du hättest es
mir sagen MÜSSEN. Wenn du ehrlich gewesen wärest. Diese ganzen Sachen
mit den Mädels und das alles."
Ina kam raus und umarmte Flo: "Hier bist du. Hast du was zu rauchen?"
Flo schüttelte den Kopf: "Nada. Sorry, ich habe hier gerade eine
wichtige Sache mit Tim zu klären. Ich komme bald wieder rein zu dir,
ok?"
Ina zog ab. Ich war beeindruckt. Vielleicht sogar etwas geschmeichelt.
"Sorry, aber du hast vielleicht wirklich keine Ahnung, als Hetero. Das
ist nicht so easy, so locker. Du erzählst mal eben allen Leuten, daß du
schwul bist."
"Und Nils? Ist er dein Freund? Ist er auch schwul?"
Ich schwieg. Ich weiß, wie Nils über das Coming Out denkt. Ich weiß, wie
er ausrasten würde, wenn noch mehr Leute wüßten, daß er schwul ist.
Also schwieg ich.
"Was ist los."
"Ich will nicht darüber reden."
"Also ja. Oder doch nicht und du bist nur unglücklich in ihn verknallt?"
Ich wollte es nicht, aber ich wurde wieder aggressiv: "Verdammt noch
mal, Florian, denkst du denn, das alles ist wirklich so einfach?"
"Mein Gott, jetzt wo ich sowieso schon weiß, daß du schwul bist, kannst du mir auch sagen, was mit Nils ist."
Ich wollte nicht mehr Widerstand leisten. Ich konnte nicht mehr. Theater
zu spielen machte keinen Sinn mehr. "Ich werde es dir sagen. Aber du
behältst es für dich. Du behältst es für dich auch Nils gegenüber, ist
das klar?! Kein Wort zu Nils!"
"Ok."
"Ja, Nils und ich sind befreundet. Er ist MEIN Freund."
"Und warum ist das jetzt so ein Problem."
"Weil Nils damit ein Problem hat."
"Nicht nur Nils, wie mir scheint."
"Das ist total was anderes, total. Nils hätte dir das nicht gesagt, so wie ich, er hätte dir gar nichts erzählt."
"Vielleicht weiß ich ja wirklich nicht Bescheid. Aber ich hätte mich gefreut, wenn du es mir von dir aus erzählt hättest."
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Das war Florian. Mein bester
Hetero-Freund. Und er ist enttäuscht, daß ich ihm nicht gesagt habe, daß
ich schwul bin. Manchmal verstehe ich die Welt nicht.
"Wird man sehr mißtrauisch, wenn man schwul ist?"
"Uff, keine Ahnung. Mißtrauisch? Wachsam vielleicht eher. Man paßt auf, daß es die anderen nicht mitkriegen."
"Also ein Versteckspiel"
"Ja, irgendwie schon. Nein, nicht nur irgendwie."
"Aber wie habt ihr euch denn gefunden? Ich meine, bevor du zu uns in die
Klasse kamst, hätte ich nie gedacht, daß Nils schwul ist. Auch als ich
dich gesehen habe, wäre ich nie auf die Idee gekommen. Nur nach ein paar
Monaten, nachdem ich gesehen habe, wie ihr miteinander umgeht, da war
es mir ziemlich klar. Also, wie habt ihr euch denn gefunden? Gibt es
irgendwelche geheimen Erkennungszeichen?"
"Nein, ich weiß nicht, ich glaube nicht. Es ist passiert, einfach so
passiert. Ich bin ausgerastet, er hat mich gegen einen Schrank geworfen
und da ist es dann eben passiert."
"Klingt ja höchst spannend."
"Es war vor allem... es war schön. Diese Sekunde, diese erste Sekunde,
in der alles so klar war, als sich alles plötzlich auflöste. Ich glaube,
daß war bisher der schönste Moment in meinem Leben."
"Wow, du kannst ja richtig romantisch sein."
Ich mußte lachen, Flos Humor ist manchmal einfach nur zum Brüllen. "Und, war es nun so schlimm, mir das zu erzählen?"
"Natürlich nicht schlimm, aber das ändert doch insgesamt nichts da dran,
daß ich mich bestimmt nicht vor die Schule stelle und allen erzähle,
daß ich schwul bin."
"Du kannst jedenfalls beruhigt sein, ich erzähle es niemandem."
"Und Nils bitte auch nicht."
"Schon verstanden. Irgendwie finde ich das ganz cool. Jetzt weiß ich, daß du mir kein Mädchen wegschnappen wirst."
"Garantiert nicht. Und jetzt geh wieder rein, sonst schnappt dir noch irgendein anderer Ina weg."
Flo hat irgendwie recht. Es hat nicht wehgetan. Aber es ist halt Flo,
ich weiß nicht, wie andere Leute reagieren würden. Aber es ist schon
Wahnsinn, wie viele Leute es inzwischen wissen, wie vielen Leuten ich es
inzwischen erzählt habe, daß ich schwul bin. Und alle haben eigentlich
super reagiert. 'Jetzt weiß ich, daß du mir kein Mädchen wegschnappen
wirst.' Ich muß grinsen. Es ist schon verrückt.
"Hier bist du. Was machst du denn hier draußen?"
"Ich hatte was mit Flo zu besprechen."
"Was denn?"
"Wir haben geklärt, daß ich ihm Ina NICHT wegschnappen werde."
"Haha, sehr witzig."
"Nee echt mal. Naja, jedenfalls so ähnlich."
"Obwohl, niedlich ist sie ja doch irgendwie."
"Nils! Wenn ich da was mitkriege..."
Er kicherte: "Ganz bestimmt nicht."
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