"Da bist du ja."
Das genau waren Heikos Worte, als er gestern aus dem Zug stieg. Ich war
ja wirklich ziemlich hin und hergerissen. Eigentlich hätte ich ihm ja am
liebsten abgesagt. Aber als ich dann auf dem Weg zum Bahnhof war,
freute ich mich dann doch, daß er kommt. Er stieg aus dem Zug, lächelte
und mir wurden wieder die Knie weich. Er umarmte mich, was mir aber
selbst auf unserem Kleinstadtbahnhof nichts ausmachte.
"Bist du mit dem Auto da?"
"Bin ich vielleicht schon 18?" Ich versuchte, mein Herzklopfen hinter frechen Antworten zu verstecken.
"Nein, wir fahren die paar Stationen mit dem Bus."
Heiko plapperte drauflos. Einfach so. Ich hörte zu und sog jedes Wort in
mich auf. Es war alles andere als weltbewegendes Zeugs, aber ich genoß
es, genoß es so, daß ich fast unsere Haltestelle versäumte. Wir taperten
die Straße hoch und Heiko keuchte unter seiner schweren Tasche.
"Was hast du denn da alles drin? So viel Zeugs für die paar Tage?"
"Na klar, immer in jeder Situation richtig gekleidet."
"Wo hast du denn den Werbespruch her?"
Wir waren angekommen.
"Hier wohnst du?"
"Ja. Ich meine, natürlich ich nicht alleine, mit meinen Eltern und mit meiner kleinen Schwester und meinem Bruder."
"Nett, sehr nett."
Heiko ließ seine Tasche auf den Boden fallen. "Cooles Zimmer, coole
Aussicht. Schon was anderes als bei mir, wo mir die Leute von gegenüber
direkt ins Zimmer gucken."
Er fing an, wie selbstverständlich seinen Krempel in meinem Zimmer zu
verteilen und ich fand es auch total selbstverständlich. Es war ein
total seltsames Gefühl. Heiko ist hier und er wirkt überhaupt nicht wie
ein Fremdkörper, es ist so, als wenn er schon immer hier war, hierher
gehört. Nach kürzester Zeit sah mein Zimmer aus wie ein Schlachtfeld und
ich grinste nur innerlich.
"Und jetzt? Was machen wir jetzt?"
"Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht, wie so dein Zeitplan hier aussieht. Erzähl doch mal, was du so getimed hast."
"Heute habe ich nichts vor. Ich dachte mir, heute können wir was
zusammen machen. Morgen, am Sonntag und am Montag bin ich dann den
ganzen Tag in Stuttgart."
"Was machst du denn eigentlich in Stuttgart?"
"Erzähle ich dir irgendwann mal. Ist etwas kompliziert", meinte er geheimnisvoll.
Na toll, spielt er eben den Mystery Man.
"Und? Was machen wir denn nun heute?"
"Ich könnte dir ein bissele unser tolles Dorf zeigen. Ist nicht Köln und
ist auch nicht spannend. Aber so sehr viel haben wir nicht zu bieten."
"Ja, warum denn nicht. Und heute abend?"
Meine Güte, vielleicht hätte ich mir ja vorher ein Touristenprogramm überlegen sollen.
"Vielleicht gehen wir in die Alte Schmiede, ins Zollhaus oder in die Tofa."
"Sagt mir alles nichts."
"Hätte mich jetzt auch gewundert. Laß dich überraschen."
Wir taperten los, durch das weihnachtliche Bergbach. Kitsch pur. Die
Innenstadt leuchtete und funkelte und ich war kurz davor, sentimental
und romantisch zu werden. Heiko plapperte unaufhörlich weiter, erzählte
vom Ringen, von Matthes, von der Schule. Und während mich sonst so ein
endloser Wortstrom nervte, genoß ich es einfach. Zwischendurch schob ich
mal solche Dinge wie: "Das ist unser Marktbrunnen." ein. Heiko nickte
kurz und es ging weiter. Die Fußgängerzone hatte nun echt nicht viel zu
bieten und so taperten wir weiter. Es hatte wieder angefangen zu
schneien und irgendwann waren wir am Kochertalweg. Ich weiß ja auch
nicht, warum ich ihn unbedingt da hin gebracht habe. Doch, ich weiß es.
Ich wollte ihm irgendwie den Ort zeigen, der für mich hier einer der
wenigen wichtigen Orte ist. Und so standen wir da, schauten hinunter auf
das weihnachtlich-winterlich beleuchtete Bergbach und das, was ich
eigentlich nicht wollte, passierte. Es war eine total schöne,
romantische Stimmung. Um uns herum alles dunkel, der Schnee dämpfte
jedes Geräusch. Ich wollte einfach nur die Situation für einen Moment
genießen. Und was macht Heiko? "Ja, und was ist hier?"
"Äh, hier ist, ich meine, da unten ist Bergbach."
"Ja. Ach so. Mir ist kalt. Wollen wir nicht langsam zurück gehen?"
Heiko. Na klar, das war Heiko, der neben mir stand. Was hatte ich denn
eigentlich erwartet? Ich bekam irgendwie schlechte Laune, ärgerte mich
über mich selber, daß ich ihn überhaupt da nach oben geschleppt hatte.
Er war es gar nicht wert, daß ich ihm das zeige. Das klingt jetzt aber
auch wieder zu heftig. Was soll's. Als wir endlich wieder zu Hause
waren, bekam ich Hunger.
"Wie sieht es denn so mit Essen aus?", fragte ich.
"Ja."
"Wie? Ja?"
"Essen, ja."
"Und was?"
"Keine Ahnung, schlag was vor. Was hast du denn da?"
Daran hatte ich nun überhaupt nicht gedacht, daß ich ja was kochen
könnte oder müßte, wenn er da ist. Ich meine, wenn Mom und Dad weg sind,
bediene ich mich immer munter aus dem Kühlschrank, aus dem Tiefkühler
oder aus der Speisekammer. Jetzt müßte ich das erst mal alles
durchforsten und mir überlegen, was ich denn für uns koche.
"Was hältst du denn davon, etwas vom China-Imbiß kommen zu lassen?"
"Ja, ist ok."
"Und deine Family ist jetzt über's Wochenende verreist?"
"Ja."
"Wie praktisch." Heiko lächelte. Und wenn ich vorhin noch etwas
verärgert über ihn war, dieses Lächeln wischte wieder alle beiseite.
"Laß mich raten: sie wissen immer noch nicht, daß du schwul bist."
"Stimmt."
"Und Nils?"
"Wie und Nils? Der weiß, daß ich schwul bin."
"Haha, ja toll. Ich meine, weiß er, daß ich hier bin? Was sagt er, was macht er?"
"Natürlich weiß er es. Er weiß, daß wir zusammen geschlafen haben. Er weiß, was zwischen uns gelaufen ist."
"Und?"
"Und was?"
"Mensch, ist das jetzt so eine Macke von dir? Dir alle Sachen immer nur
in kleinsten Häppchen aus der Nase ziehen zu lassen? Was sagt er dazu?"
"Nichts, was soll er dazu sagen?" Ich war richtig ein bißchen stolz auf
meiner Antwort, die ich einfach so locker, ganz im Heiko-Stil
rausbrachte.
"Was sagt Matthes dazu, daß du hier bei mir bist?"
Gegenangriff. Obwohl das Wort Angriff natürlich total übertrieben ist.
"Kein Problem. Ich glaube, der hat heute und morgen eine Verabredung mit einem Typen aus dem MyWay."
"Eine Verabredung? Zum Sex?"
Das rutschte mir so raus. Vermutlich war es Heikos Einfluß.
"Kann schon sein. So wie ich ihn kenne."
Ich versuchte irgendwas in Heikos Gesicht zu finden, was wenigstens ein
bißchen nach Eifersucht oder Ärger aussieht. Aber da war nichts.
Pokerface, Teilnahmslosigkeit, was weiß ich.
"Ist das wirklich so locker bei euch? Macht dir das wirklich nichts aus,
daß du jetzt schon weißt, daß er mit einem anderen Jungen rummachen
wird, während du nicht da bist?"
"Nein. Ich hab dir doch erzählt, daß wir das so abgesprochen haben, daß wir eine offene Beziehung haben."
"Ja schon, aber...", ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich war
nicht verwundert, denn ich wußte ja Bescheid. Aber irgendwie machten
mich seine Ansichten immer noch sprachlos.
"Ich bin satt. Was machen wir jetzt?"
"Weggehen? Wie wäre es mit der Tofa?"
"Tofa?"
"Ein Club, die Leute sind zwar ziemliche Bauern, aber es läuft ganz gute
Musik da. Ist so das Beste was wir hier auf dem Dorf haben. Aber
eigentlich kennst du den doch. Ihr seid doch in die Tofa gezogen, als
ihr alle im April hier wart."
"Ach dieser Laden ist das. Ich glaube, ich hab heute keine Lust auf so was. Was gibt es denn noch?"
"Alte Schmiede vielleicht? Können wir Billard spielen. Oder nein, warte,
ich habe eine Idee, wir gehen ins Havanna, das ist recht cool da. Ist
einfach eine Bar, wir können sitzen und quatschen und Leute angucken."
"Ok."
Nils schoß mir durch den Kopf. Was ist mit Nils?
"Wen rufst du an?"
"Nils, ich will fragen, ob er mitkommt."
Aber Nils war nicht zu Hause. Seine Mutter meinte, er wäre unterwegs,
wüßte aber auch nicht wohin. Na toll. Er hatte doch gesagt, daß er am
Abend zu Hause bleibt und fernsieht. Na gut, dann eben nicht.
Wir taperten los und es war ein richtig cooler Abend. Dummerweise war
2for1-Rum-Runner-Tag. Was wir natürlich total ausgenutzt haben. Nach der
zweiten Runde drehte sich in mir schon alles. Und Heiko kam wieder auf
sein Lieblingsthema Sex zu sprechen. Und ich war so breit, daß ich,
glaube ich, alles über mich erzählt habe, alles was ich geil finde, was
ich gerne mache und auch was ich gerne mal ausprobieren würde. Und Heiko
machte das gleiche. Zwischendurch trafen sich unsere Blicke immer
wieder, und obwohl wir schon total verrallert waren, war es jedes Mal
wie ein kleiner Blitz, der mich tief im Inneren traf und mich ein Stück
näher an hin heranzog. Nach der dritten Runde beschlossen wir dann, zu
gehen, und torkelten und rutschten in Richtung nach Hause.
Veranstalteten eine Schneeballschlacht in unserem Garten, die in einem
Mini-Ringkampf endete. Irgendwie schafften wir es dann doch noch bis in
mein Zimmer. Heiko wickelte sich in seinen Schlafsack und murmelte noch
etwas von gute Nacht und war weg. Ich ließ mich in mein Bett fallen,
schloß die Augen, alles drehte sich, aber es war angenehm.
Und nun bin ich jetzt schon wieder munter und ich habe komischerweise
keine Kopfschmerzen, mir ist nicht übel, gar nichts. Ich habe erst mal
unsere nassen Klamotten im Bad über die Heizung gehängt. Ich bin einfach
knallwach. Heiko pennt seelenruhig. Was ist es, was ich an Heiko so
toll finde? Ok, er sieht niedlich aus, aber auch nicht so niedlich, daß
ich extrem ausraste. Es gibt jede Menge Jungs, die viel niedlicher
aussehen. Vielleicht ist es sein Lächeln? Wenn er grinst, wenn er
lächelt, dann dreht sich alles in mir. Ich glaube, er könnte alles von
mir verlangen, wenn er dieses Lächeln aufsetzt. Ist es seine lockere Art
mit den ganzen Sachen umzugehen? Mit Beziehungen, mit Sex, mit
Fremdgehen? Ich weiß es nicht. Irgendwie schon, aber irgendwie auch
nicht. Ich glaube, ich habe ihm gestern mehr über mich und meinen Sex
erzählt als irgend jemandem sonst. Nicht mal Nils habe ich das alles
gesagt. Bei Heiko ist es überhaupt kein Problem. Ich glaube, ich könnte
ihm die verrücktesten Sexsachen erzählen, und er fände nichts dabei. Ich
überlege gerade, ob ich mich mit ihm schon mal über irgend etwas
Ernsthaftes unterhalten habe. Aber mir fällt nichts ein. Oberflächlich.
Ist Heiko oberflächlich? Nein, ich glaube nicht, daß es das ist. Und ich
glaube, daß da noch irgendwas in ihm drin ist, was nicht rauskommt.
Vielleicht werde ich irgendwann verstehen, was es ist. Jetzt gehe ich
erst mal nach unten und werde Frühstück machen.
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