"Du bist verrückt. Du bist ein kleiner verrückter Tim. Und ich liebe dich."
Wir standen auf dem Fernsehturm, haben den Sonnenuntergang beobachtet,
Sekt getrunken und einfach nur geträumt. Als ich nach dem Wettkampf
(unser Mannschaft hat gewonnen, Tim hat verloren) Nils sagte, daß wir
uns von den anderen absetzen, hat er erst etwas komisch geguckt. Vor
allem, bis wir beim Fernsehturm waren. Dann dämmerte ihm aber was:
"Sylt?" fragte er.
Ich grinste und nickte.
"Verdammt, warum hast du nichts gesagt?"
"Wieso denn. Ich habe ja daran gedacht, das reicht doch."
Und so standen wir hoch über Stuttgart, der Herbstwind pustete uns
ziemlich durch, aber dafür wärmten uns die zwei Flaschen Sekt auf. Wir
sahen die Sonne untergehen, Arm in Arm und es war uns völlig egal, ob
uns jemand sieht oder nicht. Natürlich sahen uns die anderen Leute, aber
es kümmerte sich niemand um uns. Und es war einfach nur schön. So eine
tolle Stimmung hatte ich schon lange nicht mehr. Wir schwebten einfach
nur. Das ist verrückt. Die Welt liegt uns zu Füßen, heißt das. Und
genauso war es. Nicht nur symbolisch sondern da war es ganz real.
"Ich hätte nie gedacht, daß mir so was mal passiert, wie mit dir. Da muß
erst so jemand aus Hamburg kommen, damit ich mich richtig toll
verliebe."
Ich lächelte und drückte ihn ganz fest an mich. Seit einem Jahr sind wir
zusammen. Heute vor einem Jahr haben wir das erste mal miteinander
geschlafen. Und es ist so verdammt viel passiert in dem Jahr. So viel
verrückte Sachen. Ich habe einen Freund gefunden. Wir haben uns
gestritten, gezofft und alles mögliche durchgemacht. Ich habe ihn
betrogen, er hat mich betrogen. Ich habe mich in Heiko verknallt. Nils
und ich haben uns wieder zusammengefunden. Ich habe Wettkämpfe gewonnen,
Turniere. DEN EINEN Kampf habe ich gewonnen. Ich habe den geilsten und
coolsten Sex gehabt in dem Jahr.
Ich frage mich, was passiert wäre, wenn Sophie damals nicht die
Ketschup-Flasche geschüttelt hätte, ich mich nicht mit der ganzen Soße
eingesaut hätte, wenn ich nicht Nils mit diesem Typen entdeckt hätte.
Dann hätte ich Nils nicht diese Szene gemacht und es wäre nie so weit
gekommen. Es ist ein komisches Gefühl, wie das Leben von Zufällen
abhängt. Manche Leute reden von Schicksal oder von irgendwelchen
Göttern. Ich glaube, daß es in Wirklichkeit Zufälle sind, die das Leben
weiterbringen. Das wäre doch alles nie passiert, wenn es nicht SO
abgelaufen wäre. Nils und ich würden weiter nebenher trainieren, er
würde mit irgendwelchen Mädels ausgehen und ich würde mit irgendwelchen
Typen im Schwimmbad oder auf dem Klo im X1 rummachen.
Wir redeten nicht viel und wir brauchten auch nicht viel zu reden. Wir
wissen, was der andere fühlt. Irgendwann kam die Ansage, daß der Turm
geschlossen wird und wir fuhren nach unten.
"Hunger?" fragte ich.
"So ziemlich."
Wir fuhren ins Mulino. Und Doris hatte recht. Oder Tara. Es war richtig
nett da. Keine von diesen künstlichen Rauhputz-Pizzerien. Innen war ein
total gemütlicher roher Backsteinraum mit einem Pizzaofen drin. Es war
ein ganz tolle Stimmung und Atmosphäre da. Wir haben gegessen und obwohl
wir jede Menge Rotwein in uns reingesüffelt hatten, ging es uns
hinterher noch erstaunlich gut. Es war halb zwei, als wir aus dem Laden
rauskamen. Und ich hatte total verschwitzt, daß natürlich kein Zug mehr
zurückfuhr.
"Und was machen wir jetzt?"
"Doch noch X1?"
"Irgendwie nicht. Irgendwie habe ich keine richtige Lust auf Party."
"Laß uns mal gucken, ob im Ipanema noch was los ist."
"Was ist das?"
"Ein kleiner Club. So ein bißchen angejazzt. Vielleicht ganz gut zum Chillen."
Ich wunderte mich, daß Nils einen Jazzclub in Stuttgart kennt. Aber der
Vorschlag war echt toll. Es war ein richtig cooler Club, mit total
coolen Leuten. Kein schwuler Club. Es waren zwar alle älter als wir,
aber die Stimmung war total relaxt. Und die Musik auch. Wir saßen in
einer Ecke, hörten der komischen Musik aus den 50ern oder von irgendwann
zu und begannen irgendwann tatsächlich zu tanzen. Eng umklammert
tanzten wir in irgendeinem verräucherten Club in Stuttgart und es
kümmerte niemand. Irgendwann machten wir uns auf in Richtung Bahnhof.
Langsam ging die Sonne auf. Ein Jahr mit Nils. Und ich glaube, es ist
wirklich ein Jahr Glücklichsein.
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