"Hi! Wie geht's dir?"
Da stand er vor mir. Heiko in voller Lebensgröße. Ich war gerade auf dem
Weg zum Wiegen als er mir entgegenkam. Ein winzigen Augenblick zögerten
wir beide und dann umarmten wir uns. So wie sich eben zwei Jungs
umarmen. Ich blickte ihm in die Augen: er grinste oder lächelte, wie man
es eben nennen will. Mein Herz schlug Purzelbäume und ich mußte mich
losreißen, ihn nur anschauen zu wollen. Ich versuchte irgendwas zu
sagen, irgendwas halbwegs intelligentes. Mir fiel nichts anderes ein als
die Frage nach dem Gewicht.
"59 Kilo und du?"
"Ich denke mal auch so. also, gleiche Klasse."
"Gib's zu, das ist der einzige Grund, warum du hier bist."
Was sollte ich ihn anlügen. Mein Gedanken, meine Gefühle, alle an mir
schien ein offenes Buch für ihn zu sein. "Stimmt, du hast recht."
"Dachte ich mir doch. Dein Freund kommt."
Nils kam auf uns zu. Für ein paar Sekunden gab es ein total peinliches
Schweigen. Ich glaube uns allen ging in dem Augenblick durch den Kopf,
was zwischen Heiko und mir abgegangen war. Ich glaube, ich wurde rot.
"Und du bist Tims persönlicher Coach, oder machst du auch mit?"
"Nein, ich bin nur zur moralischen und körperlichen Erbauung hier. Ich kämpfe nicht."
"Na dann...bis später."
Heiko beendete die Szene, bevor sie unerträglich wurde, indem er zu
Matthes taperte. Zum Glück war es doch gar nicht so schlimm gewesen.
"Man KÖNNTE sagen, daß er ganz attraktiv ist. Wenn man auf so jemanden wie ihn stehen würde."
"Was soll DAS denn bedeuten? Attraktiv, was ist denn das überhaupt für
ein Wort? Und was meinst du damit, wenn du sagst 'wenn man auf so
jemanden wie ihn stehen würde'?"
"Die, die immer so unschuldig aussehen, aber es gar nicht sind."
"Was weißt DU denn, auf was für einen Typ ich stehe? Siehst DU etwa unschuldig aus?"
Nils grinste: "Ich kriege doch mit, welchen Jungs du immer hinterher guckst."
Anscheinend bin ich für alle auf der Welt ein offenes Buch. Nur für mich nicht.
"Gleiche Klasse wie Heiko, na dann kann's ja losgehen", murmelte Nils.
Nach dem Wiegen folgte der Einmarsch und dann ging es auch schon los.
Nils und ich setzten uns an die Stirnseite der Halle und schauten uns
die Kämpfe auf der vorderen Matte an. Leon hatte sich seinen Walkman
übergestülpt und sich die Kapuze von seinem Sweatshirt tief über den
Kopf gezogen.
Heiko saß mit Matthes schräg gegenüber in der Mitte der Halle an Matte
2. Ein paar Male trafen sich unsere Blicke und Heiko lächelte. Es war
kein Grinsen, es war ein Lächeln. Mir wurde jedesmal heiß und kalt.
Shit, was passiert denn wieder mit mir? Matthes lächelte nicht. Matthes
schien gelangweilt, während Heiko ihm etwas erzählte. Vermutlich
erklärte er ihm die Griffe oder die Punkte. Für einen Fußballer bestimmt
nicht sonderlich spannend.
Es kam Leons erster Kampf. Er schlug sich wacker und ich schrie mir fast
die Kehle aus dem Hals, aber schließlich verlor er; sogar auf Schulter.
Nils machte ein hilflose Handbewegung als er zu mir zurückkam: "Kann
man machen nichts", äffte er Dimitri nach.
Dann kam der erste Aufruf zu meinem ersten Kampf. Natürlich kannte ich
meinen Gegner nicht. Jemand von Luftfahrt Berlin. Und als ich ihn sah,
rutschte mir wieder mal das Herz sonstwohin. Warum sehen eigentlich alle
meine Gegner immer viel größer und muskulöser aus als ich? Bin ich in
der falschen Gewichtsklasse. Na toll. Was habe ich mir hier eigentlich
vorgenommen? Nach welchem Schema läuft das hier? Poolsystem, Nordisches
Turnier? Shit, wenn ich Pech habe, dann fliege ich gleich in der ersten
Runde raus, oder doch nicht? Warum hatte ich nicht Nils vorher gefragt?
Ich mußte gewinnen, ich WOLLTE gewinnen. Und ich gewann. Mein Single Leg
klappte auf Anhieb und der Typ landete auf der Seite. Dadurch, daß er
so groß war, war ich schneller. Ich schaffte es, auf seinen Rücken zu
kommen und griff nach seinen Beinen. Das klappte zwar nicht ganz so toll
aber immerhin war ich in der Pause mit 5:2 in Führung. Ich saß in
meiner Ecke und Nils fächerte mir Luft zu. "Mach einfach weiter so. Du
bist schneller, das mußt du ausnutzen."
Heiko saß jetzt an meiner Matte und schaute zu. Kurz trafen sich unsere
Blicke. Ich weiß nicht, ob er lächelte. Ich schaffte es und gewann mit
8:3. Als der Schiedsrichter meinen Arm hob trafen sich Heikos und mein
Blick. 'Für dich', dachte ich, 'diesen Sieg habe ich nur für dich
errungen.'
Nils klopfte mir auf die Schulter und Leon nickte anerkennend. "Für den
Anfang schon nicht schlecht. Eher mehr ganz gut, würde ich sagen."
Der nächste Kampf stand an. Heiko gegen jemanden aus Goldbach. Ich weiß
nicht wieso. Ich konnte es nicht sehen. Ich ging in die Kabine. Nils kam
hinterher: "Was ist denn los? Willst du nicht sehen, wie dein nächster
Gegner kämpft?"
"Nein. Ich will es nicht sehen. Ich kann da jetzt nicht zusehen."
Nils ging kopfschüttelnd raus und kam rein, als der Kampf vorbei war. "Falls es dich interessiert: dein Schnuckel hat gewonnen."
"Mein Schnuckel", begann ich zu protestieren, doch ich wollte mich nicht
streiten. Ich ging mit Nils zusammen zurück in die Halle. Jetzt kamen
die anderen Gewichtsklassen dran. Ich wollte so gerne zu Heiko
rübergehen. Mit ihm reden. Und ihm eigentlich sagen, laß uns diesen
ganzen Scheiß hier vergessen und ein bißchen zusammen durch die Gegend
gehen. Aber das ging natürlich nicht. Also lief ich total nervös auf und
ab. Wie ein Tiger im Käfig. Shit, warum hatte ich nicht meinen Walkman
eingepackt? Irgendwann wurde es Nils zu bunt und er packte mich und
schob mich zu einer Gruppe, die am anderen Ende der Halle saß. Ein
großes Gejohle, offenbar kannten sie Nils, SAV, also Heimmannschaft.
Nils schien sowieso alle Welt zu kennen. Als nächstes ging es zu einer
Gruppe aus Hessen.
"Woher kennst du die denn alle?" wollte ich wissen.
"Wenn man so lange im Geschäft ist..."
Das klang echt so, als wäre er ein Hollywood-Agent.
Dann kam Leons zweiter Kampf. Der war zwar schon besser als der erste,
aber mit 6:4 immer noch verloren. "Dann bist du wohl Bergbachs einzige
Medaillenhoffnung", seufzte Nils.
Dann kam ich. Ich trat tatsächlich gegen jemanden aus Hamburg an.
Irgendwie cool. Am liebsten hätte ich ihm gesagt: Hey, ich komme auch
aus Hamburg. Das habe ich dann aber doch lieber gelassen. Der Kampf war
einfach. Jetzt sage ICH sogar schon, daß er einfach war. Aber er ging
schnell. Kurz vor Ende der ersten Runde schaffte ich sogar einen
Schultersieg. Ich war selber ganz übergerascht. Wieder hob der
Schiedsrichter meinen Arm hoch. Wieder suchte ich Heikos Blick, doch der
unterhielt sich mit irgendwem anderes und hatte offenbar nichts von
meinem Kampf mitbekommen. Na toll. Ich trottete zu meinem Platz. "Was
hörst du da eigentlich?" fragte ich Leon. Er reichte mir die Kopfhörer.
Schrecklich: Jazz! Ich gab sie ihm mit spitzen Fingern wieder zurück.
Ich glaube er und Tobias würden sich prächtig verstehen.
Das übliche Gewusel bei solchen Veranstaltungen. So diszipliniert am
Anfang beim Einmarsch noch alles ist, desto mehr sieht die Halle nach
einer Weile aus wie ein Heerlager zu altrömischer Zeit. Taschen,
Handtücher, Rucksäcke, Plastikflaschen, Klamotten. Alles lag kreuz und
quer in der Gegend rum. Viele machten es so wie Leon und zogen sich mit
ihrem Walkman zurück. Einige hüpften permanent umher und taten so als
würden sie sich aufwärmen. Und dann war da noch Tim. Tim, der auch am
liebsten vor Aufregung hin und hergehüpft wäre. Der kribbelte und vor
Aufregung zitterte. Und trotzdem äußerlich ganz ruhig sitzen blieb. Aber
in ihm kochte und brodelte alles. Heiß und kalt wechselten sich ab.
Jetzt würde es also gleich passieren. Das, worauf ich ein halbes Jahr
lang hingearbeitet hatte, wofür ich trainiert hatte. Nachts aufgewacht,
nicht mehr einschlafen können. Verflucht, geheult und geschrieben. All
das würde jetzt passieren. Heiko und ich zusammen auf der Matte. Der
Aufruf kommt. Ich drückte noch einmal ganz fest den Bären von Doris und
Nils' Eisbär. Meine beiden Glücksbringer. Dann gucke ich zu Nils. Ich
habe Angst. So viel Angst hatte ich noch vor keinem Kampf. Und trotzdem
will ich es. Ich will es wissen. Ich will es hinter mich bringen und ich
will es schaffen. Nils schaut mich ernst an, dann drückt er mich kurz.
Ich weiß, daß ihm das jetzt mindestens ebenso viel bedeutet wie mir. Ich
gehe in die Mitte der Matte. Auf Heikos Gesicht ein Lächeln: "Na dann
wollen wir mal", murmelt er. Ganz so, als würden wir zu einem
Spaziergang aufbrechen. Wir geben uns die Hand. Das Lächeln
verschwindet. Der Schiedsrichter tritt zurück. Ich bin allein, allein
mit Heiko. Und doch um uns herum eine ganze Welt, die zuschaut. Ein
Pfiff, der Kampf beginnt.
Wie automatisch mache ich wieder meinen Single Leg. Und auch diesmal
klappt er. Jedenfalls fast. Heiko ist schnell, verdammt schnell. Noch
ehe ich es schaffe, mich nach oben zu arbeiten, hat er sich schon auf
den Bauch gedreht. Immerhin kriege ich Punkte. Ich versuche es mit einer
Beinschraube, verhaspele mich selber dabei und Heiko schafft es,
aufzustehen und hinter mich zu kommen. Er wirbelt mich herum und nun
lande ich plötzlich schmerzhaft auf dem Bauch. Arme breit, zehn Uhr,
zwei Uhr. Du mußt eins werden mit der Matte. Ich merke, daß er
mindestens ebenso nervös ist wie ich. Er versucht irgendwelche Griffe
anzusetzen und läßt es gleich wieder. Bis der Kampfrichter schließlich
abpfeift und der Kampf im Stand weitergeht. Ich vermeide es, Heiko
anzugucken. Ich will ihn nicht anschauen, nicht in seine Augen sehen.
Diesmal war er schneller. Ich konnte gar nicht so schnell denken, da
hatte er schon meinen Arm gegriffen und mich zu Boden gezogen. Ich
spüre, wie er auf mir landet, spüre sein Gesicht ganz dicht an meinem
Nacken. Was ist das nur für eine bekloppte Sache, die ich hier mache?
Anstatt mit ihm irgendwo im Bett zu liegen, wälzen wir uns beide auf
dieser Matte, vor einem grölenden Publikum. Unsere beiden Freunde stehen
irgendwo am Mattenrand und Heiko und ich veranstalten hier so was wie
eine Art mittelalterliches Duell. Total daneben. Das alles schoß mir
durch den Kopf und dadurch paßte ich eine Sekunde lang nicht auf. Zeit
genug für ihn, meinen Brustkorb zu umfassen, mit dem Griff nach unten an
die Hüfte zu gehen und eine Rolle anzusetzen. Gerade als er mich halb
herumgedreht hatte, machte ich meine Arme und Beine breit und versuchte,
mich mit aller Kraft auf ihn fallen zu lassen. Und es klappte: er bekam
mich nicht mit der Rolle herum, während er selbst fast auf der Schulter
landete, ich auf ihm drauf. Ich schaffte es, seinen Griff zu lösen und
versuchte mich umzudrehen, doch da war er auch schon wieder auf dem
Bauch. Noch bevor ich etwas machen konnte, kam der Halbzeitpfiff.
"Hast du alles vergessen, was wir in den letzten Monaten trainiert
haben?", blaffte Nils mich an. "Du hast so viele Chancen gehabt. Und
nichts hast du da draus gemacht. Also, verdammt noch mal reiß dich
zusammen. Ich will, daß du gewinnst. Ist das klar?"
Ich konnte nichts sagen. Ich war zu sehr außer Atem. Jede einzelne
meiner Rippen tat weh und jetzt kam noch eine zweite Runde. Wieder
zurück in die Mitte. Pfiff. Ich versuchte noch mal meinen Single Leg und
er klappte wieder. Fast jedenfalls. Diesmal schien Heiko darauf
vorbereitet gewesen zu sein. Denn kaum hatte ich sein Bein gepackt,
beugte er sich vornüber, griff um meinen Brustkorb, ließ sich nach
hinten fallen und warf mich dabei über seinen Kopf. Ich landete
schmerzhaft auf der Matte, doch ich hatte nicht einmal Zeit noch Luft zu
holen, da warf er sich auf mich. Ich wollte schreien, so sehr taten
meine Rippen weh, doch ich biß mir lieber auf die Zunge. Nur noch weg,
nur noch raus hier, dachte ich. Heiko setze einen Nackenhebel an. Mit
einer Gewalt, daß ich Angst bekam. Er begann, mich herumzudrehen,
langsam, ganz langsam. Er drückte mich immer weiter nach unten. Eine
meiner Schultern war bereits auf der Matte, es war nur noch eine Frage
der Zeit, bis ich völlig geschultert war. Er drückte und stieß mit all
seiner Kraft, mit seinem gesamten Gewicht in meine Seite. Ich bekam
keine Luft mehr, vor meinen Augen tanzten kleine Leuchtpunkte und
Blitze, in meinen Ohren nur noch Rauschen. Ich war kurz davor zu heulen.
Aber irgendwas in mir sträubte sich dagegen aufzugeben. Nein, nicht du.
Nicht Heiko. Und wenn es der letzte Kampf ist, den ich mache. Ich will
gewinnen! Scheiß drauf, was Nils sagt, was Werner oder Mahmout sagen.
Es ist mir alles scheißegal. ICH, nur ICH will gewinnen. Ich kriegte
mit, wie der Kampfrichter neben mir am Boden war, die Pfeife schon im
Mund und die Handfläche schwebend über der Matte. Ich schrie ein NEIN in
mich hinein, streckte meinen Kopf nach hinten und drehte mich über
meine eigene Schulter zur Gegenseite und nahm Heiko dabei mit. Auf
einmal kam ich mir vor wie in einem dieser Ami-Sportfilme, in denen der
Held ganz plötzlich DIE Superaktion in Zeitlupe macht. Stille, absolute
Stille. Der Gegner landet krachend auf der Matte und plötzlich setzen
die Fanfaren ein. Ok, hier waren es keine Fanfaren, hier hörte ich
plötzlich wieder alles um mich in der Halle, das Jubeln der Zuschauer,
ich hörte sogar Nils rufen, auch wenn ich nichts verstand. 11:7, ich lag
trotz dieser Aktion immer noch vier Punkte im Rückstand und nur noch
eine halbe Minute Kampfzeit. Wenn das ganze Krafttraining in den letzten
Monaten für irgend etwas gut war, dann jetzt. Ich griff nach Heikos
Arm, nach seinem Kopf. Nun versuchte ich ihn auf die Schulter zu
drücken. Er wand sich unter mir, strampelte und bäumte sich auf. Ich zog
den Griff enger. Schweiß tropfte von meiner Stirn, lief mir in die
Augen. Ich brauchte nichts mehr zu sehen. Ich fühlte wie Heikos
Widerstand schwächer wurde, aber würde ich es in den letzten Sekunden
noch schaffen. Ich hörte wie er fast ein bißchen jammerte, seufzte und
ich fühlte genau, wie sehr er sich in dieser Sekunde ärgerte, daß ich
die Oberhand hatte.
"Tiiiiiiim!" Das war Nils. Nein Nils, das ist nicht dein Sieg. Das ist
MEIN Sieg. Mit meiner letzten noch verbliebenen Kraft rammte ich meine
Schulter gegen seine. Der Kampfrichter schlug mit der Hand auf die
Matte. Einen Moment später ertönte der Gong. Jubel in der Halle. Es war,
als wenn alle nur noch unseren Kampf verfolgt hätten.
"Du kannst ihn jetzt loslassen", sagte der Kampfrichter. Ich stand auf.
Ein stechender Schmerz in meinem Knie. Aber ich ignorierte ihn, humpelte
zur Mitte. Mein Arm wurde hochgehoben. Alles drehte sich um mich.
Jetzt, jetzt schaute ich zum ersten Mal Heiko an, zum ersten Mal blickte
ich wieder in seine Augen. Aber ich weiß nicht mehr, was ich sah. Ein
ganz klein wenig Lächeln. Wir umarmten uns. "Na siehst du", flüsterte er
mir ins Ohr. Ja, ich habe es geschafft. Ich taperte zurück in meine
Ecke. Da stand ein breit grinsender Nils, die Arme in die Seite
gestemmt. Er schlang mir das Handtuch um den Hals und zog mich zu Boden:
"Ich bin tausendmal gestorben. Noch spannender konntest du es wohl
nicht machen was?" Er umarmte mich: "Gut gemacht, mein Schatz" flüsterte
er mir ins Ohr. Leon kam und klopfte mir auf die Schulter.
"Warum hinkst du denn?"
"Ich glaube irgendwas ist wieder mit meinem Knie."
Ich humpelte in die Kabine, während Nils mich stütze. Kaum war die Tür
hinter uns zugefallen, umarmte er mich und gab mir einen langen Kuß.
"Du hast es geschafft."
Ich lächelte. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich konnte nur nicht
sagen, wie es mir nun ging. Ich bat Nils, erst mal einen Eisbeutel oder
so was zu organisieren. Er kam gleich mit den beiden Maltesern zurück,
die mein Knie von allen Seiten begutachteten, bewegten ehe sie
schließlich ein Coldpack raufbeppten.
"Du solltest das lieber Röntgen lassen", meinte der Ältere von den beiden.
"Kommst ja überhaupt nicht in Frage", plärrte ich. Ich habe mindestens
noch zwei Wettkämpfe. Da tapere ich doch nicht ins Krankenhaus."
"Du willst doch nicht mit dem Knie noch einmal auf die Matte."
"Aber sicher doch."
"Nix da."
"Ich gehe da wieder raus, verdammt noch mal!" schrie ich. "Ich habe in
der nächsten Runde ein Freilos. In einer halben Stunde ist das wieder ok
mit dem Knie. Ich kenne das schon", log ich.
Die beiden zuckten mit den Schultern und trotteten davon. Ich legte mich
auf die Bank und beppte meinen Fuß auf eine Sporttasche. "Das wird
schon", beruhigte ich Nils, der ganz besorgt guckte.
Und es wurde tatsächlich besser. Nach zehn Minuten tat es schon fast nicht mehr weh und ich ging vorsichtig zurück in die Halle.
Gewonnen. Ich hatte gegen Heiko gewonnen und ich konnte noch immer nicht
sagen, wie ich mich fühlte. Nils strahlte und ich sah ihm an, wie stolz
er war. Mein Sieg, sein Sieg. So sei es. Gerade als Nils lostaperte, um
die Wasserflaschen zu füllen, kam Heiko an: "Du warst ja so lange in
der Kabine mit Nils? Habt ihr rasch einen Quickie geschoben?"
Jedem anderen hätte ich auf der Stelle eine reingehauen. Heiko brauchte
ich nur anzugucken, sein Grinsen und ich konnte ihm nicht mehr böse
sein.
"Wir haben es nicht miteinander getrieben sondern ich habe mir mein Knie
verarzten lassen, daß DU mir halb zertrümmert hast." Leider klappte das
mit dem schlechten Gewissen einreden nicht.
"Ich soll dir das Knie zertrümmert haben? Soll ich dir mal erzählen, was
DU so alles angerichtet hast? Mein Oberarm wird garantiert für die
nächsten Wochen vor lauter blauen Flecken nicht mehr zu sehen sein, mit
deinen komischen Beinangriffen hast du mir fast die Hüfte ausgekugelt
und mein Handgelenk ist in deinem Schraubstockgriff auch nicht gerade
besser geworden.
"Ich wußte gar nicht, daß du so ein Weichei bist."
Heiko buffte mich in die Seite und traf natürlich genau die Rippen, die
sowieso schon wehtaten. Doch ich ließ mir nichts anmerken. "Wir sind
noch nicht fertig miteinander", sagte er.
"Wie meinst du das?"
Doch er antwortete nicht. Nils kam.
"Du hast einen guten Trainer", sagte Heiko.
Nils grinste. Ich sah, wie sich ihre beiden Blicke trafen. Aber ich konnte nicht erkennen, was jeder von ihnen dachte.
"Guter Ringer, guter Trainer, alte chinesische Weisheit."
Dann wieder Schweigen. Jetzt kam zu allem auch noch Matthes und meinte, er würde etwas rausgehen, er fände das alles langweilig.
"Dann geh doch. Denk nur daran, rechtzeitig wieder hier zu sein, ich
habe nämlich den Schlüssel für unser Zimmer." Das alles sagte Heiko ohne
sich überhaupt zu ihm umzudrehen. Kaum war Matthes weg, meinte Heiko:
"Er nörgelt schon den ganzen Tag rum. Ich frage mich echt, warum er
überhaupt mitgekommen ist."
Es war mir peinlich, daß Heiko so über ihn redete.
Leon verlor auch seinen nächsten Kampf. Er tat mir richtig leid. Und
dann kam mein nächster Kampf. Ich ging mit richtig guter Stimmung auf
die Matte. Ich hatte Heiko besiegt. Aber vielleicht war mir das zu Kopf
gestiegen. Vielleicht war ich dadurch so unkonzentriert geworden.
Jedenfalls war der Kampf nach 30 Sekunden vorbei, ein Wurf und ich
landete auf dem Rücken, keine Chance. Nils runzelte die Stirn als ich
zurück in meine Ecke kam: "Was war das denn jetzt? Dein Knie? Oder hast
du jetzt nach Heiko keine Lust mehr, dich überhaupt noch anzustrengen?"
"Ich weiß es nicht, keine Ahnung. Es ging alles so schnell."
Ein lange Blick von Nils. Ob als Ermahnung oder Strafe, ich weiß es nicht.
Heiko dagegen gewann seinen Kampf durch technische Überlegenheit. Es war
seltsam. Plötzlich hatte ich Angst um ihn, als ich ihn so kämpfen sah.
Natürlich Quatsch, denn was sollte ihm passieren. Aber trotzdem.
Eigentlich hatte ich auch gar keine Lust mehr dazubleiben. Weswegen ich
hergekommen war, hatte ich geschafft. Also, wozu noch hier rumsitzen?
Natürlich ging das nicht, ich hatte noch einen Kampf. Da konnte ich
nicht abhauen. Immerhin gewann Leon seinen nächsten Kampf. Zwar knapp
mit 7:6, aber immerhin. Er strahlte als er von der Matte kam. Ich freute
mich echt für ihn.
Ja und dann kam mein letzter Kampf. Und wieder habe ich meinen typischen
Fehler gemacht und meinen Gegner unterschätzt. Er war kleiner und auch
dünner als ich. Und ich dachte schon, daß ich ein leichtes Spiel hätte.
Aber nichts da. Was ich auch versuchte, er wand und zappelte sich aus
allen Griffen heraus und konterte. Schließlich verlor ich mit 9:6
ziemlich schwach und schlich mich in meine Ecke. Nils verzog das Gesicht
und mußte eigentlich gar nichts sagen. Doch er sagte was:
"Minimalringer."
"Du bist echt ungerecht. Immerhin habe ich die ersten drei Kämpfe gewonnen.
"Ja und die letzten beiden verloren. So sauschlecht hast du ja noch nicht mal bei deinem ersten Wettkampf gerungen."
"Du weiß genau, warum ich hierher gekommen bin. Das weiß du ganz genau."
"Denkst du denn, jetzt ist alles vorbei? Nur weil du einmal gegen Heiko
gewonnen hast, brauchst du dich nie wieder anzustrengen? Heiko, das
einzige Ziel von Tim, dem Möchtegern-Ringer."
"Was ist denn auf einmal mit dir los? Drehst du jetzt komplett ab?"
Nils wurde ruhiger: "Ich will nur nicht, daß du glaubst, jetzt ist alles
vorbei. Nur weil du ein Ziel erreicht hast, ist noch lange nicht
Schluß."
"Das ist mir doch klar. Und ich weiß auch nicht, warum ich die beiden
letzten Kämpfe verloren habe. Aber vielleicht brauche ich einfach einen
Moment Auszeit."
Nils nickte. Ich hatte alles in den letzten Monaten in dieses eine Ziel
gesteckt. Und ich hatte es erreicht. Vielleicht hatte Nils ja recht.
Vielleicht ist ja jetzt wirklich die Gefahr, daß ich jetzt alles
schleifen lasse. Vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß
es jetzt noch nicht. Und ich will mir jetzt auch keine Gedanken darüber
machen. Mein Knie fängt wieder an wehzutun. Ich gucke mich in der Halle
um, treffe auf Heikos Blick. Ein Lächeln. Es ist schon merkwürdig. Wenn
Heiko lächelt, ist die Welt für mich in Ordnung.
Vierter Platz. Keine Medaille, kein Platz auf dem Treppchen. Nils ist
ein bißchen enttäuscht. Auch wenn er sich natürlich heimlich und auch
nicht heimlich über meinen Sieg gegen Heiko freut. Heiko hat
tatsächlich den dritten Platz gemacht. Ich war der Einzige, gegen den er
verloren hat. Alle anderen Kämpfe hatte er gewonnen. Na toll, die
Medaillen überreichte irgendso eine weibliche
Regional-Tralala-Meisterin. Ein Mädel das ringt ist ja nun schon abartig
genug, daß sie Medaillen überreicht macht die Sache nur noch schlimmer.
Daß sie die Jungs auf dem Siegerpodest aber dann noch mit einem Kuß
beglückt, ist aber total daneben. Ich sah wie Heiko rot wurde. Heiko
wurde ROT!!! Yeah. Allein das war es schon wert. In der allgemeinen
Auflösung kam er zu mir: "Und? Was macht ihr heute Abend noch? Fahrt ihr
gleich wieder zurück?"
"Nein, dafür ist es zu spät. Wir pennen noch hier und fahren dann morgen nach dem Frühstück zurück."
"Ja und? Was macht ihr denn dann heute Abend? Oder was machst DU heute Abend?"
Ich guckte ihn an und wußte genau, was er dachte, was er wollte. Und
ich, ich verdammt noch mal ich wollte es auch. Doch ich sagte nur:
"Keine Ahnung, wir haben uns noch nichts überlegt."
"Vielleicht können wir ja noch irgendwo was trinken gehen. Nils kann ja mitkommen, wenn er mag."
"Oh, wie großzügig."
Das war wieder typisch Heiko. 'Nils kann ja mitkommen.' Mit welcher
Selbstsicherheit kommt er auf die Idee, ich würde ohne Nils am Abend
weggehen? Jetzt, wo ich das schreibe, fällt mir natürlich ein, daß ich
auch hätte sagen können, daß Matthes ja auch mitkommen kann. Shit, daß
einem so was immer erst hinterher einfällt. Ich möchte ihm so gerne böse
sein. Ich möchte mich über ihn ärgern können. Doch es geht nicht.
Irgendwo habe ich mal den Satz gelesen: "Ich bin wie Wachs in deinen
Händen." Jetzt weiß ich, was damit gemeint ist.
Nils kam von seiner Quatsch-und-Tratsch-Tour mit dem Jungs vom SAV zurück. "Was machen wir denn heute Abend? Schon eine Idee?"
"Das gleiche hat Heiko gerade auch schon gefragt. Er hat gefragt, ob wir nicht zusammen was trinken gehen wollen."
"Na das paßt doch. Dann gehe ich in aller Ruhe mit den Jungs vom SAV was trinken und du mit deinem Heiko."
Nils hatte mich gründlich mißverstanden. "Er meinte, daß wir, also wir alle zusammen was trinken gehen."
"Ach nein, Tim, bitte nicht. Was soll ich denn mit Heiko an einem Tisch
sitzen und mir angucken wie du ihn anschmachtest? Ich kann ihn nun mal
nicht ausstehen, aber wenn du dich mit ihm treffen willst, ist das ok.
Wirklich."
"Nils ich, ich dachte wir beide machen was zusammen heute."
Er zog mich in eine Ecke der Halle und setzte sich auf den Boden. Ich hockte mich gegenüber hin.
"Tim, paß mal auf. Ich weiß genau, was er für dich bedeutet. Und ich
weiß ganz genau, was da zwischen euch läuft. Auch wenn es keiner von
euch beiden sagt. Wenn du mit ihm weggehen willst, dann mache es doch.
Quatscht, redet, macht, was weiß ich. Was soll ich denn dabei? Und ich
bin nicht böse, oder sauer. Oder eifersüchtig. Wirklich nicht. Verdammt
noch mal, Tim. Ich liebe dich und ich will, daß es dir gut geht. Und
wenn du mit Heiko weggehen willst, dann mache es."
Ich blicke ihn lange an. Nils, meinen Nils. Es ist eine komische Sache.
Ich überlege mir, wie es umgekehrt wäre. Ich weiß es nicht.
Wir tapern schweigend zum JGH zurück. Ich weiß nicht, ob wir schweigen,
weil uns so viele Dinge durch den Kopf gehen oder weil Leon dabei ist.
Leon. Der Ärmste. Ich möchte ihm so gerne irgendwas zum Trösten sagen.
Daß er gar nicht so schlecht war, daß das bestimmt noch was wird. Irgend
so was in dieser Richtung. Aber ich komme mir blöd vor. Wer bin ich
denn? Ein Trainer? Der große Crack, der das beurteilen kann? Also halte
ich lieber meinen Mund und sage gar nichts.
Als Leon im JGH unter der Dusche verschwindet liegen Nils und ich uns
endlich in den Armen. Ein unendlich langer und schöner Kuß. "Es tut mir
leid, daß ich dich vorhin so angemotzt habe", meinte er. "Ich freue
mich, daß du gewonnen hast. Dreimal hast du gewonnen. Das ist wirklich
echt eine Leistung."
Er vergräbt sein Kopf in meinem Arm. Ich streiche sanft über seinen
Nacken, merke wie er zittert. Wir tapern zusammen unter die Dusche, aber
es kommt immer jemand rein, so daß wir nichts miteinander machen
können. Und Nils zieht tatsächlich los, zu seinem Treffen mit den
Leipzigern. Leon ist irgendwo und ich, ich Idiot, ich bleibe hier,
schreibe Tagebuch und warte darauf, mit Heiko durch das nächtliche
Leipzig zu ziehen.
Ich habe gewonnen. Ich habe gegen Heiko gewonnen. Ist dieses Phantom
weg? Ich weiß es nicht. Es ist ein wenig von diesem Gefühl weg, daß
Heiko unfehlbar ist, unangreifbar. Er ist besiegbar, und wenn es nur auf
der Matte ist. Vielleicht ein Anfang. Heiko ist nicht immer der Sieger.
Trotz seiner andauernden Selbstsicherheit, seiner
Selbstverständlichkeit. Ein ganz klein wenig habe ich mich zurück. Es
klopft. Ich habe Hunger.
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