"Bist du wahnsinnig geworden?"
Flo und Mehmet rissen mich hoch und zerrten mich in eine Ecke. Wir
hatten Trainingskämpfe und diesmal hatte Dimitri Nils und mich auf die
Matte gestellt. Er selber war zum anderen Ende der Halle getapert, um
etwas mit Werner zu bequatschen. Ich weiß nicht, was genau passierte.
Ich spürte nur noch Haß in mir, jede Menge Haß und Energie. Nils landete
auf dem Rücken und ich schlug auf ihn ein, ja ich prügelte tatsächlich
auf ihn ein. Nicht lange. Einige Sekunden später hatten mich Flo und
Mehmet überwältigt und hielten mich fest: "Was ist denn in dich
gefahren? Tickst du jetzt völlig aus?"
Ich ließ mich zu Boden sinken und zitterte. Dimitri kam angelaufen: "Was ist denn hier passiert?"
Da sah ich Nils, wie er sich aufrappelte. Seine Nase blutete. "Nichts,
ich bin unglücklich gefallen", sagte er und verschwand in der Umkleide.
Dimitri warf mir einen prüfenden Blick zu. Ich saß da, in mich
zusammengesunken. Alles was ich an Wut, an Energie hatte, war weg. "Bist
du jetzt wieder vernünftig?" fragte Flo.
Ich nickte.
"Was ist denn los mit euch?"
"Nichts ist los, das ist eine Sache zwischen Nils und mir."
"Sag bloß, ihr habt euch beide in das gleiche Mädchen verguckt."
Ich verzog das Gesicht und guckte in eine andere Richtung. Oh, ihr Ahnungslosen, ihr seid zum Glück alle so blind!
"Kann man dich jetzt alleine lassen, ohne daß du wieder auf jemanden einprügelst?"
Ich nickte. Ich blieb sitzen. Ich blieb sitzen, als die anderen sich
umziehen gingen, ich ging sitzen als die zweite Männer-Mannschaft ihr
Training begann. Irgendwann trottete ich in die Umkleide. Was ist mit
mir los? Plötzlich entwickele ich mich zum Schläger? Ich prügele auf
Nils ein, Nils, den ich noch vor ein paar Tagen mit Küssen zudeckt
hatte, Nils, den ich doch eigentlich über alles liebe und den ich dann
doch wieder über alles hasse. Ich erkenne mich selbst nicht mehr.
Im
Zeitlupentempo ziehe ich mich um. Wie in einem Film kommen mir Szenen
aus dem letzten Jahr in Erinnerung. Nils, der mir nach dem ersten
Training Mut machte weiterzumachen, seine Hand auf meiner Schulter, sein
Blick, in dem ich versank. Die Umarmung, der Kuß nach dem ersten Sieg,
die freudige Funkeln in seinen Augen. Alles schien so weit weg. So wie
in einer anderen Welt, unwirklich.
Ich schwang mich auf's Rad und fuhr los. Nicht nach Hause, ich weiß auch
nicht wieso. Fast automatisch fuhr ich zum Kochertalweg. Und erst zu
spät sah ich, daß ER dort stand, daß ER auf mich wartete. Ich hätte noch
umdrehen können, doch ich wollte nicht mehr, ich konnte nicht mehr. All
meine Kraft war verschwunden. Ich stieg vom Rad. Nils' Nase und
Oberlippe waren dick. Ich versuchte, etwas in seinem Gesicht zu lesen,
doch es gelang mir nicht.
"Du kommst spät, aber ich wußte, daß du kommst."
"Ach ja? Und was soll das jetzt hier werden? Willst du mir jetzt ganz
offiziell sagen, daß es aus ist? Tolle Gelegenheit, tolle Stelle.
Wirklich, fast filmreif." Ich merkte, wie in mir wieder die Wut
hochkochte.
"Du hörst mir jetzt zu. Und du hältst jetzt verdammt noch mal deinen Mund."
"Vielleicht habe ich aber gar keine Lust, dir zuzuhören. Vielleicht weiß ich ja schon ganz genau, was du sagen willst."
Nils griff nach meinem Handgelenk, dreht meinen Arm auf den Rücken und
drückte mich ganz langsam zu Boden: "Ich habe gesagt, daß du jetzt
zuhörst." Er drehte meinen Arm weiter auf den Rücken. Ein stechender
Schmerz in meiner Schulter, Gras in meinem Gesicht.
"Du bist so ein
verdammter ein Narr", seine Stimme war ganz dicht an meinem Ohr, "Tim
Berger, du bist so ein verdammt arrogantes Arschloch..."
Ich sagte nichts. Ich konnte nichts sagen.
"Du lebst wohl nur in deiner eigenen Welt."
Ich verstand nicht, was er meinte. Irgendwann ließ er los und ich konnte mich aufrappeln.
"Können wir jetzt endlich miteinander reden?"
Ich nickte. Kam mir auf einmal vor wie ein kleines Kind.
"Tim, warum gehst du mir seit Freitag aus dem Weg? Warum rastest du so
aus? Denkst du etwa, da ist etwas zwischen Sarah und mir?"
Aha, Sarah heißt sie also.
"Warum gehst du heimlich weg, ohne mir was zu sagen? Warum gehst du
heimlich mit einem Mädchen weg? Ist das jetzt deine Art von Rache für
die Sache mit Heiko?"
"Ich gehe nicht heimlich weg. Ich hab einfach Lust gehabt, an dem Abend
wegzugehen. Und Sarah habe ich erst in der Tofa kennengelernt."
"Und? Was läuft zwischen euch?"
"Es läuft gar nichts. Du kapierst echt nichts. Da läuft überhaupt nichts. Wir haben einfach zusammen gequatscht, das ist alles."
Ich wollte ihm glauben, verdammt noch mal, ich wollte ihm so gerne glauben.
"Warum hast du mich so behandelt am Freitag vor der Tofa?"
"Schließlich hast DU mir eine Szene gemacht. Was hätte ich denn machen
sollen? Dich in den Arm nehmen? Mensch, werd' doch mal wach! Wir sind
hier in Bergbach. Hier kennt jeder jeden. Und du kommst wie Rambo in den
Laden reingerannt und machst mir eine Szene, die alle mitkriegen."
"Da hat niemand was mitgekriegt."
"Hast du mich vielleicht gefragt, als du dich mit Robert in Stuttgart
getroffen hast? Hast du mich vielleicht vorher gefragt, als du mit Heiko
rumgemacht hast? Hast du mich vielleicht gefragt, als du extra wegen
Heiko nach Köln gefahren bist?"
"Das ist etwas total anderes."
"Das ist überhaupt nichts anderes! Was denkst du denn wer du bist? Du
darfst hier alles machen, dich treffen mit wem und wann du willst,
rummachen mit wem du willst. Und wenn ich einmal, EINMAL alleine
weggehe, dann kommt Tim reingerauscht und macht einen riesigen Aufstand
und schlägt mich dann auch noch fast zusammen."
"Sag mir, daß da nichts ist mit Sarah. Sag' es mir."
Nils blickte mir in die Augen: "Da ist nichts, da war nichts und da ist nichts."
Und ich glaubte ihm. Ja, ich wußte, daß er die Wahrheit sagte. Ich wollte ihn in den Arm nehemen: "Nils, ich..."
Er ging einen Schritt zurück: "Nein Tim, so nicht. Du glaubst doch wohl
nicht, daß jetzt alles wieder so ist, als wäre nichts passiert."
Ich schaute ihn verwirrt an: "Was meinst du?"
"Ich habe dich geliebt Tim, wirklich, ich habe dich geliebt. Ich habe
dir die Sache mit Heiko verziehen, obwohl mir das so wehgetan hat. Tim
mault rum, Tim rastet aus. Das alles habe ich dir verziehen, denn ich
habe dich geliebt. Aber jetzt, jetzt bist du einfach zu weit gegangen."
Mir wurde schwindelig: "Was willst du damit sagen?" fragte ich heiser.
"Ich will damit sagen, daß wir uns für eine Weile nicht mehr treffen
sollten. Die ganze Sache, das mit dem Schwulsein ist schon schwierig
genug für mich. Und wenn dann da noch jemand ist, der auf mich
einprügelt, nur weil ich mal einen Abend alleine weggehe..."
"Nils, bitte...", ich griff nach seiner Hand. Er zog sie weg.
"Nein Tim, laß es! Vielleicht überlegst du dir wirklich mal, was du da so machst."
Und er stand auf und fuhr los. Einfach so. Er verschwand in der
Dunkelheit und ich saß da. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich
halbwegs begriffen hatte, was passiert war. Was hatte er getan? Was
hatte ICH getan? Wie betäubt nahm ich mein Rad und schob es vor mir her.
In meinem Kopf wirbelten alle möglichen Sachen durcheinander. Nichts
ergab einen Sinn. Nils, so erwachsen, so überheblich. Und ich stehe da
wie der absolute Depp. Nein, ich BIN der absolute Depp. Jemand der alles
immer nur kaputt macht.
Es ist aus. Es ist tatsächlich aus und ich bin merkwürdig ruhig. Doch,
es tut mir weh. Aber ich heule nicht. Es gibt nichts mehr, worüber ich
heulen könnte. Alles habe ich schon in der letzten Woche durchgemacht.
Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr schreiben für heute.
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