Donnerstag, 5. Juni 1997

5. Juni

"Es ist seltsam", sagte Nils und zuppelte einen Faden aus dem Rand der Mattenplane, "in letzter Zeit denke ich immer wieder daran, wie es wohl ist, wenn wir mit dem Abi fertig sind."
Ich schaute ihn an und war ein bißchen verwundert. Er war nachdenklicher geworden in dem ganzen letzten Jahr. Nein, er ist immer noch der lustige Nils, der mich mit seinen strahlenden Augen mitreißt, der rumblödelt und total albern sein kann. Aber dann hat er auf einmal wieder Momente, wo er eben so seltsam nachdenklich ist.
"Ich muß zugeben, daß ich so richtig ernsthaft noch nie darüber nachgedacht habe."
"Aber man muß doch Pläne machen, für die Zukunft."
"Nils, das sind noch zwei Jahre hin."
"Ja und? Hast du keine Idee, was du dann machst, ich meine nach dem Abi?"
"Nicht so richtig. Auf jeden Fall will ich hier weg. In diesem Kaff will ich nicht länger als nötig bleiben."
"Wohin willst du denn?"
"Das weiß ich doch jetzt noch nicht. Vielleicht wieder zurück nach Hamburg. London vielleicht, was weiß ich."
"Und ich?"
"Wie und du?"
"Spiele ich gar keine Rolle dabei?" seine Stimme klang traurig.
"Hey, das ist noch ewig hin. Sag bloß, du willst hier in Bergbach bleiben? Was kann man denn hier schon machen, oder werden?"
"Ich weiß nicht, vielleicht will ich ja gar nichts Großartiges machen. Ich weiß ja nicht mal, ob ich überhaupt studieren will."

Ich sagte nichts mehr. Es gibt wenige Sachen, in denen Nils und ich total anderer Meinung sind. Aber hier waren wir wieder an einem Punkt angekommen, wo ich ihn nicht verstand, wo ich aber auch nicht auf ihn einreden wollte. Das Ganze war mir viel zu weit weg, noch viel zu irreal.
"Vielleicht wirst du ja ein großer Bergbacher Ringer, machst bei der nächsten Olympiade mit, gewinnst eine Goldmedaille und bekommst einen dicken Werbevertrag."
"Mit Ringen ist doch kein Geld zu verdienen. Fußballer müßte man sein, oder Tennisspieler."
"Tja, wir haben uns eben den falschen Sport ausgesucht."
"Wir haben ihn uns nicht ausgesucht, er hat sich UNS ausgesucht."
"Ah ja."

Wir schwiegen und schauten Flori beim Trainingskampf zu.
Aber die Unterhaltung hatte mich für den Rest des Tages wirklich nachdenklich gemacht. Ich versuche, mir mal wieder meine Zukunft vorzustellen. Und es fällt mir echt schwer. Das Einzige, was ich weiß, ist daß ich garantiert nicht hier in Bergbach bleiben werde. Ok, Stuttgart könnte ich mir gerade noch so vorstellen. Aber am liebsten würde ich wieder zurück nach Hamburg gehen. Ich glaube, da bin ich immer noch zu Hause, da bin ich nie ganz weg. Und dann irgendwas studieren, nur was? Ich weiß es echt nicht. Architektur wäre ganz nett, aber dafür kann ich wahrscheinlich nicht verrückt genug denken und eh nicht zeichnen. Was mir ein bißchen Angst macht, ist, daß Nils in diesen Ideen gar keine Rolle spielt. Wenn überhaupt sehe ich mich, wie ich eine eigene Wohnung habe, Leute treffe, alles mögliche mache. Aber kein Nils. Vielleicht muß ich mich ja wirklich erst mit der Idee vertraut machen, mit ihm richtig zusammen zu leben.

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