Mittwoch, 25. Juni 1997

25. Juni

"Willst du reden?"
Ich wollte gerade zur Schule gehen, da steht Doris vor der Tür. Ich fiel ihr um den Hals und fing wieder an zu heulen. Sie schob mich ins Haus: "Was ist denn um Himmels Willen los? Hast du dich mit Nils gestritten?"
"Es ist aus."
"Wie? Aus?"
"Aus, vorbei! Nils hat sich irgendein Mädchen angelacht, mit dem er heimlich weggeht."
"Woher weißt du das?"
"Ich habe es gesehen. Ich habe IHN gesehen! Zusammen mit IHR! In der Tofa!" schrie ich.
"Was hast du gesehen?"
"Ich habe genug gesehen. Ich bin nicht blöd, auch wenn das einige Leute vielleicht annehmen."
"Hast du mit ihm geredet?"
"Was soll ich denn noch mit ihm reden? Ich WILL nichts mehr mit ihm zu tun haben und ich will auch ganz bestimmt nicht mehr mit ihm reden."
"Tim, vielleicht ist das überhaupt nichts."
Meine Güte, wie blöd Doris doch manchmal ist. Dann saßen wir uns eine halbe Stunde gegenüber ohne ein Wort zu sagen. Schließlich durchbrach sie die Stille: "Soll ich mal mit ihm reden?"
"Unterstehe dich!" schrie ich. "Das läßt du gefälligst bleiben!"
"Schon gut, schon gut. Nun raste doch nicht gleich wieder aus."
"Ich soll nicht ausrasten? Mein Freund, Nils, den ich geliebt habe, dem ich vertraut habe, betrügt mich, belügt mich."
Wir sind spazieren gegangen. Haben die Schule ausfallen lassen, einfach so. Sind über die Wiesen und Felder gelaufen, Hand in Hand, schweigend. 'Don't give up, cause you have friends.' Es tut gut, daß sie da ist, obwohl sie Nils nicht ersetzten kann. Sie kann ihn mir nicht zurückbringen. Aber es tut wenigstens ein bißchen gut zu wissen, daß da jemand ist, dem ich nicht völlig egal bin. Irgendwann waren wir in Degendorf und setzten uns in das einzige Eiscafé.

Es ist schon seltsam, in dem letzten Jahr ist so viel passiert in meinem Leben. So viele neue Dinge, so viele absolut verwirrende Sachen. Mehr als in den Jahren davor in Hamburg. Wie soll das alles weitergehen? Ich habe Angst, daß ich irgendwann noch wahnsinnig werde, wenn sich das nicht ändert. Wenn ich mich nicht endlich fallen lassen kann, ohne nachzudenken, ohne mißtrauisch zu sein, ohne mich ständig umgucken zu müssen, ohne Angst zu haben, daß mich jemand belügt, betrügt, hintergeht.

Wir sind dann mit dem Bus zurückgefahren. Doris ist den ganzen Tag bis zum Abend bei mir geblieben. Um neun hat sie dann ihr Vater abgeholt. Ich weiß nicht, ob es mir wirklich besser geht. Ich weiß nur, daß es mir nicht mehr viel schlechter geht.

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