Mittwoch, 31. Juli 1996

31. Juli

"Ich habe schließlich Ferien", meinte Phil als ich ihn gefragt habe, warum er denn mit den Mädels hier rumbaggert. "Du solltest dich ja vielleicht auch mal amüsieren." Naja toll, mit wem denn? Heute war jedenfalls wieder Strand angesagt, wenn auch mit T-Shirt. Ich war zusammen mit Phil und den anderen. Eigentlich sind die Leute alle ziemlich uninteressant. Da ist zwar ein total geil aussehender Typ dabei, so mit einem richtig netten Schwimmerbody, aber erstens ist er strohdoof wenn er nur den Mund aufmacht und zweitens der absolute Hetero. Naja was soll's. Es macht aber trotzdem Spaß mit ihnen rumzuhängen. Sie wohnen alle in diesem Rosapineta-Feriendorf im Ort. So richtig mit Wohnwagen, Zelt oder Miniblockhaus. Ziemlich gruselig diese Anlage und reichlich spießig.

Dienstag, 30. Juli 1996

30. Juli

"Ich dachte du bist alt genug, um an so etwas zu denken."
Jaja, laber, laber. Ok, ich habe einen Sonnenbrand. Aber nicht genug, daß das Ganze höllisch zeckt, nein, da muß ich mir noch Moms Geseiere anhören. So was nervt echt. Also gut, nichts mit Strand, kein Meer. Die ganze Familie ins Auto und ab auf Kultur in die Landschaft. Familie Berger fällt also auf dem Weg in die Provinzhauptstadt Rovigo in einen kleinen Ort namens Adria ein. Keiner weiß aber, ob der Ort nun wegen des Meeres so heißt oder umgekehrt. Was eigentlich auch ziemlich egal ist. Rovigo soll angeblich genauso viele Einwohner wie Bergbach haben, aber es scheint noch toter zu sein. Ok, war ja auch Mittagszeit. Ansonsten gabs außer einer ollen Burg und einer achteckigen Kirche (na toll) nichts Besonderes zu sehen. Doch, ich habe eine ganze Reihe von Jungs gesehen, die hier Arm in Arm durch die Gegend laufen. Das ist irgendwie schon seltsam, ich meine die können doch eigentlich nicht alle schwul sein. Naja, blöd, daß ich niemand fragen kann. Dafür tut mir jetzt nicht nur der Rücken vom Sonnenbrand weh sondern auch noch mein Knie vom vielen Rumgelaufe, na toll.

Am Abend bin ich ich dann trotzdem noch mit Phil ins Dorf gegangen und wir haben ein paar Leute kennengelernt. Na klar aus Deutschland, Ruhrgebiet, aber sie scheinen ganz ok zu sein. Mich wundert nur, daß Phil tierisch am rumbaggern mit zwei der Mädels ist. Ich meine, er hat doch sein Mädel in Hamburg. Aber ich traue mich irgendwie nicht, ihn danach zu fragen. Vielleicht ist das ja auch bei Heten so. Komisch, heute erst habe ich zum ersten mal seit wir hier sind, an Nils und die anderen gedacht. Und fast ein bißchen schlechtes Gewissen, weil ich natürlich noch überhaupt nichts trainiert habe. Aber schließlich habe ich auch Ferien.

Montag, 29. Juli 1996

29. Juli

"Du willst also nicht mitkommen?"
Nein, wollte ich nicht. Die Landschaft und Umgebung kann ich mir immer noch angucken, denke ich. Ich will jetzt einfach nur ein bißchen Strand und Nichtstun. Habe eine Weile am Meer in der Sonne gelegen, war im Wasser, richtig schön. Dann bin ich am Strand entlang in Richtung Dorf getapert. Je näher ich kam, desto voller wurde es am Strand. Ha, und immer mehr niedliche Jungs waren zu sehen. Irgendwann landete ich dann an einem Strandabschnitt von einem Feriendorf. Hier war richtig was los. Aber irgendwie waren alle vor allem mit sich selbst oder mit den Leuten um sich herum beschäftigt. Naja, was soll's. Das Dumme ist nur, daß ich mir wahrscheinlich einen Sonnenbrand eingefangen habe. Da ist morgen mit Strand erstmal nichts.

Sonntag, 28. Juli 1996

28. Juli

"Nix da, du kommst mit einkaufen. Am Strand kannst du noch die ganzen Wochen liegen." Na toll, so hatte ich das schon befürchtet. Also los zum nächsten großen Supermarkt: Lebensmittel für die nächste Zeit einkaufen. Ich wußte gar nicht, daß Mom so gut italienisch sprechen kann. Ich verstand jedenfalls nichts. Auf jeden Fall sehen die Italiener alle ganz niedlich aus finde ich.

Am Nachmittag dann endlich Strand. Einfach nur Nichtstun. Leider gibt es keine großen Wellen, aber dafür ist das Wasser schön warm. An unserem Strandabschnitt ist es außerdem ziemlich leer, so daß es eigentlich nichts zu sehen gibt. Morgen werde ich mal gucken, wie es ist, wenn man am Strand in Richtung Dorf läuft. Jetzt jedenfalls gibt es erstmal Grill.

Samstag, 27. Juli 1996

27. Juli

"Selbst in Italien haben die Geschäfte am Sonntagvormittag zu."
Na toll, super Planung. Nix mit Sachen für's Frühstück einkaufen. Na was soll's. Dafür geht es eben wieder in ein Café, auch nicht schlecht. Jetzt habe ich auch mehr von dem Ort gesehen. Naja ok, so groß ist das hier wirklich nicht, eine große Hauptstraße, die irgendwann am Strand endet und ein paar kleine Nebenstraßen. Alles total auf Touristen abgestellt.

Ansonsten haben wir den Tag erst mal damit verbracht, uns im Haus einzurichten. Am Abend gab es dann einen großen gemeinsamen Spaziergang am Strand lang zum Ort. Und ich bin wieder ziemlich fertig. Vielleicht liegt es wirklich daran, daß es hier tierisch warm ist.

Freitag, 26. Juli 1996

26. Juli

"Das ist ja der totale Irrsinn!"
Mom war kurz davor durchzudrehen. Ok, es ist wirklich total krass, wie die in Italien Auto fahren. Jedenfalls sah es einige Male fast so aus, als gäbe es einen Frontalcrash, weil irgendwelche Winzautos plötzlich aus der Gegenrichtung auf unserer Spur auftauchten. Brennerautobahn und Österreich waren ziemlich unspannend, aber sobald wir eben in Italien waren ging der Wahnsinn los.

Zwischenstop in Verona mit Regen, Schirmkauf und einstündigem Aufenthalt in einer miserablen Pizzeria. Dann weiter über Chioggia und endlich angekommen in Rosolina Mare und auch noch heil.

Das Haus ist wirklich super. Wahnsinnig, was manche Leute so bauen. Wir haben dieses Riesenhaus mit Garten wirklich für uns ganz alleine. Zum Strand sind es nur ein paar Minuten und zum Dorf ist es auch nicht weit. Wir sind erstmal gleich nach unserer Ankunft in Rosolina Mare was essen gegangen, weil alle anderen Läden schon zu hatten. Viel habe ich eh noch nicht gesehen. Jetzt bin ich erst mal ziemlich fertig und gehe schlafen.

Donnerstag, 25. Juli 1996

25. Juli

"Wozu willst du denn DAS mitnehmen? Wir fahren nach Italien, da ist es warm!"
Ich hasse Urlaubsvorbereitungen. Ich hasse es Koffer zu packen und ich hasse es erst recht, Koffer zu packen, wenn Mom ständig alles kontrollieren muß. Sie sieht es einfach nicht ein, daß man auch da unten nicht total schlunzig rumlaufen kann. Naja, was soll, nachdem ich mindestens dreimal alles hin- und hergeräumt hatte, paßte alles rein und ich schloß meine Urlaubsvorbereitungen damit ab. Lisa war auch total aufgeregt und düste permanent zwischen allen Zimmern hin und her.

Zum Glück kam Nils irgendwann und so konnte ich endlich meine Tür hinter mir zumachen. Aber er schien irgendwie schon ganz woanders zu sein. Jedenfalls laberte er ständig was davon, daß ich in den Ferien auf jeden Fall weitertrainieren soll. Dann drückte er mir noch einen kopierten Trainingshefter in die Hand und meinte, ich soll darin die einzelnen Einheiten eintragen, die ich mache. Ich weiß überhaupt nicht, was er sich vorstellt. Ich meine, ich habe Urlaub, Ferien! Ich will doch nicht in die Nationalmannschaft aufgenommen werden.

Naja, ok, dadurch daß er so komisch war, war das mit dem Abschied zum Glück nicht so heftig. Obwohl, als ich ihn nach unten brachte und er mit seinem Rad davonfuhr, guckte ich ihm noch eine ganz Weile nach. Bis Lisa irgendwann angerannt kam: "Was ist denn da draußen?"
"Nichts, jedenfalls nicht im Moment."
"Und was kommt da?" wollte sie wissen.
"Auch nichts. Nicht in den nächsten Wochen." Denn morgen, morgen geht es nach Italien!

Mittwoch, 24. Juli 1996

24. Juli

"Und wie ist es?"
"Besser", ich hab nicht mal gelogen. Mein Knie ist fast nicht mehr dick und tut auch fast nicht mehr weh. Naja, trotzdem hat mich Mom zur Schule gebracht. Was ich ziemlich affig fand, aber was soll's.

Waren ja eh nur drei Stunden, mit Zeugnis und dem ganzen Blabla. Aber mein Zeugnis ist ganz ok, bin eigentlich ganz zufrieden, nur die Drei in Deutsch hätte irgendwie nicht sein müssen. Anyway. Jetzt fangen die Ferien an!!!

Ein bissel komisch ist es schon, die anderen die nächsten Wochen nicht zu sehen. Aber wenigstens kommt Nils morgen noch mal vorbei.

"Zur Feier des Tages" (so nennt Mom das immer), waren wir heute richtig groß essen. Dad hat ein total nobles Restaurant in der Nähe von Ulm gefunden. Naja, auf jeden Fall gab es ein 6-Gänge-Menue und ich bin jetzt wirklich absolut pappsatt. Wobei 6 Gänge waren auch wirklich notwendig, weil jede einzelne Portion war schon ziemlich klein. Von einer allein wurde man nicht satt.

Dienstag, 23. Juli 1996

23. Juli

5:30
"Arrrgs!" Shit. Bin gerade aufgewacht und mein Knie ist ganz dick. Weiß gar nicht was ich eigentlich machen soll. Mom und Dad will ich nun bestimmt nicht deswegen wecken. Habe erstmal zwei Aspirin genommen, mal sehen, wie es wird.

14:30
Uff, ich hab es geschafft zur Schule zu kommen, ohne, daß jemand zu Hause was gemerkt hat. Das hätte bestimm einen Riesenterz gegeben. In der Schule bin ich einfach fast die ganze Zeit sitzen geblieben. Nils meint, ich soll einfach weitermachen mit dem Kühlen, das würde helfen, naja ich hoffe es.

20:45
Habe Mom und Dad erzählt, daß ich in der Schule die Treppe runtergefallen bin. Naja, jetzt kann ich wenigstens "offiziell" humpeln. Ich weiß gar nicht, ob das besser wird. Mom hat sich mein Knie angeguckt und meint, wenn es morgen noch dick ist, müssen wir zum Arzt.

Montag, 22. Juli 1996

22. Juli

"Clemens ist richtig beeindruckt von dir."
"Ach ja? Wieso denn?"
"Na weil du so locker mit deinem Schwulsein umgehst, meint er."
Wenn es nicht so daneben gewesen wäre, hätte ich eigentlich loslachen müssen. Statt dessen guckte ich Doris nur fragend an: "Was für ein Unsinn! Locker? Er hat ja überhaupt keine Ahnung!"
"Hör doch mal auf zu jammern", meinte sie.
"Oh, ich soll aufhören zu jammern? Na vielen Dank. Ich will überhaupt nicht locker damit umgehen! Ich will endlich mal jemanden kennenlernen."
"Ja, ja ich weiß."
Ok, ich bin ungerecht ich sehe es ja auch ein. Aber was soll ich denn machen? Eigentlich ist es mir völlig egal, ob ich schwul bin oder nicht, ob es alle wissen oder nicht. Eigentlich will ich ja nur, daß da jemand ist, der genauso fühlt wie ich. Ach was soll's. Ist doch sowieso alles Scheiße.

21:45
Na toll, das hat mir gerade noch gefehlt. An dem letzten Trainingstag vor den Ferien, verknackste ich mir doch das Knie. Super. Dabei hätte es so ein toller Angriff werden sollen. Aber irgendwie habe ich mein rechtes Bein nicht schnell genug gedreht bekommen. Jedenfalls tat es höllisch weh. Jetzt geht es ja schon wieder, obwohl es immer noch so komisch pocht. Ich glaube ich werde das mal etwas kühlen und sehen wie es morgen wird.

Sonntag, 21. Juli 1996

21. Juli

7:30
"Bleiben sie wo sie sind und halten sie ihre Ausweise bereit!"
Shit! So was ist mir noch nie passiert. Eine Razzia! Eine Razzia im X1. Na toll. Sie waren garantiert hinter irgendwelchen Drogen her, weil wir unsere Taschen ausleeren mußten. Naja, zum Glück hatte ich nichts dabei. Aber als sie gesehen haben, daß ich erst 16 bin (was heißt überhaupt erst 16?) mußten sie sich natürlich meinen Namen aufschreiben. "Sie wissen, daß sie sich um diese Uhrzeit an diesem Ort nicht mehr aufhalten dürfen?" Jaja, laber du nur weiter. Na und, dann ist es eben zwei Uhr. Was soll's. Ob ich nun zu Hause im Bett liege oder hier abdance ist doch eh wurscht.
Naja, nur weil Nils und ich vor den Augen von den Bullen in ein Taxi nach Bergbach gestiegen sind, haben sie uns nicht eingesammelt. Oh, das wäre ja noch der absolute Hammer gewesen, mit einem Bullenpanzer nachts zurück nach Hause gebracht zu werden. Es war seltsam, die ganze Fahrt von Stuttgart nach Bergbach haben wir kein Wort miteinander geredet. Erst als wir schließlich am Marktplatz ausstiegen und das Taxi davonrauschte fingen wir an, wie blöde abzulachen.

21:30
Wieder mal Familientag, mit abendlichem Grillen im Garten. Aber war eigentlich gar nicht so schlecht. Bin nur todmüde, was ja auch kein Wunder ist, hab eh so gut wie gar nicht geschlafen.

Samstag, 20. Juli 1996

20. Juli

"Heute Abend mal wieder X1?" fragte Nils. Warum eigentlich nicht. Ich habe Bock mich wieder mal zuzudröhnen. Außerdem müssen wir nicht mit der Bahn fahren. Silvios Bruder fährt uns nach Stuttgart. Ok, ich gebe zu, daß ich eigentlich nicht sonderlich Bock darauf habe, noch jemanden von der Sippe zu erleben, aber Silvio scheint im Moment ganz friedlich zu sein.

Ich habe Phil gefragt, ob er mitkommt, aber er hat irgendwie keine Lust. Seltsam, seit er hier ist, hat er eigentlich nie Lust zu irgendwas. Ich glaube er ist ziemlich fertig, weil er sein Mädel noch in Hamburg hat. Naja, ich weiß nicht, wie ich ihm da helfen kann.

Ok, jetzt mache ich mich fertig für heute Abend. Wird bestimmt ganz witzig.

Freitag, 19. Juli 1996

19. Juli

"Fleete, Fleete", endlich konnte ich mal eine Frage ohne langes Nachdenken beantworten. Wir hatten Trivial-Abend bei Doris. War echt gemütlich, Clemens war da und ihre Eltern machten auch mit. Naja, ich bin nicht besonders gut bei dem Spiel, aber ab und zu ging es dann doch. Hinterher saßen dann Doris, Clemens und ich noch draußen. Als Clemens auf dem Klo war meinte Doris: "Du solltest ihm langsam mal sagen, daß du schwul bist. Er wird ein bissel eifersüchtig."
"Wer?"
"Clemens."
"Wieso? Ich denke, er weiß längst Bescheid."
"Hab ich dir versprochen, niemandem was zu sagen, oder nicht?"
Uff, ich muß zugeben, daß ich mir darüber eigentlich nie Gedanken gemacht hatte. "Kannst du es ihm nicht einfach sagen?"
"Den Teufel werde ich tun", meinte sie. "Das ist ganz schön deine Sache." Ok, ich gebe ja zu, daß das vielleicht wirklich eine ziemlich komische Sache ist, wenn er gar nicht weiß, daß ich nichts von Doris will, wir aber trotzdem immer zusammen rumhängen. Und ich schaffte es. Ich habe es tatsächlich geschafft. Es war etwas konstruiert, ok, aber es klappte. Wir redeten irgendwann von jemandem aus der Oberstufe, den ich eigentlich nur vom Sehen her kannte und ich warf einfach nur ein: "Ja, der ist eigentlich ganz nett, obwohl er nicht schwul ist." Doris grinste und Clemens guckte mich etwas verdattert an: "Bist du schwul?"
"Ja."
Wow, das ging ja leicht. "Oh, Respekt."
Ich verstand erst gar nicht, was er damit meinte: "Wie? Respekt davor, daß ich schwul bin?"
"Nein, daß du so locker damit umgehst."
"Ich gehe eigentlich gar nicht so locker damit um, in der Schule weiß es keiner außer Doris. Naja und zu Hause auch nicht."
"Und wie ist es so?"
"Was?"
"Homosexuell zu sein, meine ich."
Wie kann man nur so eine bekloppte Frage stellen? "Ich weiß nicht, es geht so." Ich hatte nun wirklich keine Lust, ihm mein Gefühlsleben auszubreiten. Zum Glück schien er an dem Thema nicht weiter interessiert zu sein und so quatschten wir über alle möglichen anderen Sachen.

Ich bin aber wirklich selbst überrascht, wie einfach mir das rausrutschte. Vielleicht lag es einfach daran, daß ich Clemens gar nicht wirklich kenne und daß er überhaupt niemanden anderes kennt, der mit mir zusammen ist. Aber ich glaube, es ist das erste Mal, daß ich jemandem ganz direkt gesagt habe, daß ich schwul bin. Schon erstaunlich.

Donnerstag, 18. Juli 1996

18. Juli

"So schlecht ist es eigentlich gar nicht", erzählte Max. Naja, ich weiß nicht, ob ich das so spannend finden würde. Aber er meint, die anderen in der Gruppe sind ganz ok. Inzwischen ist wohl auch seine Mutter aufgetaucht. Ziemlich wirr die Frau. In der nächsten Woche gibt es wohl einen Termin beim Jugendamt.

Im Gegensatz zu den Lehrern scheint Dimitri übrigens zu glauben, daß er uns vor den Ferien noch mal richtig rannehmen muß. Wir haben heute fast die gesamte Zeit Konditionstraining gemacht. Es war so heftig, daß sogar Nils und die anderen völlig fertig waren.

Nils meint, in den Ferien ist trotzdem Training, aber dann werden die Mannschaften zusammengefaßt, weil eh nicht alle da sind. Und dann gibt es diesem komischen Montana-Austausch, von dem niemand so recht weiß, was dabei rauskommt. Naja, ich bin ja eh erstmal die ersten vier Wochen weg. Nils meint aber, ich soll auch wenn ich nicht da bin, trainieren, wenigstens Kondition und ein paar Griffe; notfalls mit Phil. Na das stelle ich mir ja toll vor - er wird ja wahnsinnig begeistert sein.

Mittwoch, 17. Juli 1996

17. Juli

"Schluß für heute!"
Wow, Schulschluß nach der vierten Stunde. Super. Zum Glück war das Wetter entsprechend also sind wir ins Schwimmbad gefahren. Ja, ich gebe zu, ich habe gehofft, den Typen von Sonntag wiederzutreffen. Aber nichts. Fehlanzeige. Irgendwie glaube ich, Melanie versucht sich, an mich ranzumachen, sie wollte unbedingt neben mir liegen. Ach ja, und ständig hat sie mich gefragt, ob sie mir was vom Stand holen soll. Es war total nervig und Nils dieser Idiot hat zu alledem auch noch gegrinst. Als sie mal für eine Weile weg war habe ich ihn gefragt warum er so blöde grinst. "Naja, ich glaube, die ist scharf auf dich."
"Na toll, ich aber nicht auf sie."
"Wieso nicht?"
"Nicht mein Typ." Damit habe ich nicht mal gelogen.
"Und was ist dein Typ?"
Ja...diese Frage, aber ich beschloß ihn total auf's Glatteis zu führen und begann ihn zu beschreiben: "Etwas kleiner als ich, blond, kurze Haare, vielleicht blaue Augen."
"Melanie ist blond." Ich schmiß mich fast weg...dieser Idiot merkte überhaupt nichts.
"Blond ja, aber viel zu fett."
"Doris ist viel fetter." Das war ja nun absolut daneben.
"Doris ist einfach nur eine nette, gute Freundin, ein Kumpel. Wann verstehst du das denn endlich mal?"
"Ja, ja. Ist ja schon gut. Aber Mel ist ganz leicht ins Bett zu kriegen. Nur mal so als Tip."
"Ey, ich will nichts von ihr, schon gar nicht ins Bett. Und überhaupt, woher weißt DU denn das?"
"Man hört so einiges."
"Hört oder erlebt?"
"Wer weiß", grinste er.
Unsere Unterhaltung wurde jäh unterbrochen, weil Florian mir unbedingt eine eiskalte Büchse Bier auf den Rücken stellen mußte. Das führte zu einer kleinen Verfolgungsjagd rund ums Becken und zu der obligatorischen Verwarnung durch den Schwimmeister. Jaja...blabla.

Irgendwann wollte ich doch noch mal mein Glück unter der Dusche versuchen. Aber es war so gut wie nichts los. Naja, irgendwann kam ein halbwegs niedlicher Typ rein. Aber noch ehe ich überhaupt einen Ständer hatte, verschwand er wieder. Naja, was soll's, dachte ich. Dummerweise wurde ich meinen Ständer nicht richtig los. Als die Tür zur Dusche aufging, dachte ich schon, der Typ von vorhin würde noch mal zurück kommen. Aber statt dessen kam Florian rein. Shit, und ich stand mit vollem Ständer da. Er guckte natürlich und grinste blöd: "Ziemlicher Druck, was?" Ich wußte mal wieder überhaupt nicht, was ich sagen sollte und grunzte nur irgendwas. Naja, jedenfalls gibg er wieder raus und meinte nur so was wie: "Na dann viel Spaß noch." Oha, ich glaube ich versinke jetzt noch im Boden, ist das peinlich.

Aber zum Glück schien alles noch normal zu sein, als ich wieder zu unserem Liegeplatz zurückkam. Jedenfalls zogen die anderen irgendwann ab zum Kadertraining und ich blieb noch. Aber es passierte nichts weiter, außer daß mich Melanie und ihre Freundin ziemlich vollaberten, aber ich hörte einfach gar nicht hin.

Dienstag, 16. Juli 1996

16. Juli

"Wie gehts denn bei dir mit dem Ringen?"
Ich guckte Tobias verblüfft an. Daß ausgerechnet ER mich danach fragt, finde ich schon spannend. Ich habe ihm erzählt, daß es eigentlich immer besser geht und er hat genickt. Na gut, mehr kann ich ja nun auch nicht erwarten. Aber immerhin.

Heute seit langer Zeit wieder Boris auf dem Schulhof gesehen. Naja, natürlich hat er mich keines Blickes gewürdigt, was mich sowieso gewundert hätte. Die Sache mit dem Triumphbogen ist aber voll witzig.

Krafttraining war auch ok. Ich meine es ist irgendwie nichts besonderes passiert. Nils war wir immer. Was will man mehr?

Montag, 15. Juli 1996

15. Juli

"Mach dir nichts draus, Silvio ist einfach ein Idiot."
"Schon klar, aber warum nennt er mich permanent 'kleine Schwuchtel'? Benehme ich mich vielleicht so? Oder trage ich ein unsichtbarer Schild auf der Stirn, wo drauf steht ich bin schwul?"
Doris lachte: "Nicht daß ich wüßte. Aber er nennt doch alle Leute so. Er ist und bleibt eben ein Arsch." Ich muß ehrlich sagen, daß mich diese Antwort nur zum Teil beruhigte. Eigentlich hörte ja sowieso niemand auf ihn. Aber mich nervt das trotzdem, weil ich mir immer überlege, ob er vielleicht irgendwas mitbekommen hat.
Naja, ansonsten ist die Zeit kurz vor den Zeugnissen halt wie am GySue. Ein Teil der Lehrer hat genauso wenig Lust wie die Schüler und der andere Teil glaubt, den Stoff bis zum letzten Tag durchziehen zu müssen. So wie es aussieht, wird mein Zeugnis ganz gut aussehen.

Max ist auch wieder in der Schule. Er meint, in der WG achten sie genau darauf, daß die Leute zur Schule oder zur Arbeit gehen. Er scheint in den letzten paar Tagen total erwachsen geworden zu sein. Ich erkenne ihn fast gar nicht mehr richtig wieder und bin überrascht, daß so etwas so schnell geht. Ich habe ihn gefragt wie es ihm geht. Er meint, eigentlich ist es ganz ok so, wie es jetzt ist, der ganze Streß in der Zeit vorher war sowieso kaum mehr zum Aushalten. Er macht sich nur Sorgen um Paul, wie es ihm jetzt geht.

Training war ganz spannend heute. Wir haben eine neue Griffserie gelernt: Granby. Und ich habe es sogar auf Anhieb kapiert.

Sonntag, 14. Juli 1996

14. Juli

"Das schafft er nie im Leben."
Wir waren im Freibad. Eigentlich fast alle aus dem Verein und Nils kletterte auf den Sprungturm. Er wollte einen doppelten Salto vorführen. Mir wurde bei solchen Aktionen immer total mulmig zumute. Nicht daß ich nicht selber schon oft genug auf dem 3-Meter-Turm gestanden hätte und gesprungen wäre. Aber alles, was so in Richtung Salto geht, ist mir unheimlich. Naja, Nils schaffte es jedenfalls glänzend und ich beneidete ihn ein bißchen darum.
"Probiers mal, ist ganz leicht," meinte er, als er aus dem Becken stieg. "Nee, laß mal, das ist nix für mich."
Er grinste: "Du bist ein kleiner Feigling." Ich wußte, daß er es eigentlich nicht ernst meinte, aber es traf mich trotzdem. Also ließ ich ihn stehen und taperte zurück zu unseren Decken. So ein Arsch dachte ich. Aber er kam mir hinterher. Irgendwie schien er gemerkt zu haben, was er da für einen Mist gesagt hatte. "Sei nicht so empfindlich", meinte er.
"Schon ok", log ich. Irgendwie malte ich mir in diesem Moment aus, wie ich ihm weh tun könnte. Ich meine damit nicht körperlich. Anscheinend gibt es nichts, was Nils nicht besser kann, wo er nicht cooler ist. Ok, ich bin in der Schule besser als er. Aber bei allen anderen Sachen ist er besser. Und dafür hasse ich ihn irgendwie. Ich hasse ihn, für seine Selbtsicherheit, für seine Coolheit. Dafür, daß gerade das was er sagt immer gilt und richtig ist. Ich drehte mich auf den Rücken und guckte in die Sonne. Das ging natürlich nicht lange gut und ich schloß die Augen. Weiße Kreise tanzten in meinem Kopf.
"Tim?"
"Ja doch", antwortete ich so mürrisch wie es ging. Schweigen. Ich wußte nicht ob er noch da war. Dann nach einer halben Ewigkeit: "Warum sagst du eigentlich nie, was du denkst?" Was war denn das für ein Scheiß? Eigentlich wollte ich ihn fragend angucken. Statt dessen antwortete ich trotzig: "Weil es dich absolut nichts angeht!"
"Na wenn du meinst." Obwohl ich die Augen geschlossen hatte, konnte ich mir genau vorstellen, wie er mit seinen Schultern zuckte. Es schien ihn nichts wirklich treffen zu können. "Ich gehe nach vorne, soll ich was zu trinken mitbringen?"
"Nein." Dann zottelte er ab. Verdammt, warum fühle ich mich in solchen Situationen immer so hilflos?

Ich setzte mich auf und guckte mich um und schaute direkt in die Augen von einem Jungen, der ein paar Meter weiter weg lag. Ich meine, ich guckte und er guckte, wir beide guckten uns genau in die Augen. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, aber es schien mir wie eine Ewigkeit. Ich lächelte, aber er lächelte nicht zurück und dann guckte er weg. Shit, was sollte das denn jetzt? Aus den Augenwinkeln sah ich, daß er immer wieder zu mir rüberguckte. Ok, er sah nicht so berauschend aus, ziemlich klein und unheimlich dünn, aber sein Gesicht war hübsch. Als ich mich endlich dazu entschlossen hatte, noch mal ganz direkt zu ihm rüberzugucken, kamen die anderen an, naja und da war dann natürlich alles vorbei. Er drehte sich um und guckte auch nicht mehr zu mir rüber. Ich bin sogar direkt vor seiner Nase zu den Duschen langmarschiert. Aber er kam nicht hinterher. Scheiße, was soll's. Aber diese Sekunden, als wir uns in die Augen guckten, waren toll, wie ein heisser Lichtstrahl. Und etwas seltsames fällt mir jetzt gerade, wo ich das hier schreibe auf: Ich habe die ganzen letzten Tage nichts über mein Schwulsein geschrieben. Ja, ich habe wirklich daran gar nicht gedacht. Das ist schon komisch, fast habe ich vergessen, daß ich schwul bin, obwohl, kann man so was vergessen? Nein, bestimmt nicht, aber seltsam ist es schon.

Samstag, 13. Juli 1996

13. Juli

"Mach dich drauf gefaßt, daß du die nächste Saison da unten verbringst."
Nils zeigte nach unten auf die Matten. "Dann ist nichts mehr mit dumm auf der Tribüne rumsitzen."
"Hör auf mit dem Quatsch. Du weiß genau, daß ich noch lange nicht so weit bin."
"Du mußt. Glaubst du, du lernst nur was, wenn du zum Training gehst und hier oben rumsitzt? Du fängst in der zweiten Mannschaft an, als Ersatz für Dirk."
Ich schob den Gedanken weg. Was interessiert mich das, was im Oktober sein wird? Bis dahin kann jede Menge passieren. Nils ging nach unten. Es war einer der letzten Kämpfe der aktuellen Saison und niemand hatte so richtig Lust. Max war nicht gekommen, und für ihn stand eben dieser Dirk auf der Matte. Wenn ich ehrlich bin, dann war er wirklich nicht besonders. Irgendwie machte er immer genau die falschen Griffe. Trotzdem fühle ich mich seltsam bei dem Gedanken, daß ich da unten vor allen Leuten antreten muß.

Nach dem Turnier haben wir uns alle noch im Venezia getroffen. Ich hab mich ziemlich gelangweilt, weil es eigentlich nur ums Ringen ging, um den USA-Austausch, um die Aufstellungen für die nächste Saison. Angeblich sind in den letzten Wochen irgendwelche Talentsucher aus Bayern und Köln hiergewesen. Aber niemand will etwas sagen, mit wem sie geredet haben. Nils flüsterte mir nur zu: "Mal sehen, wer im Oktober noch dabei ist." Ich gebe zu, daß ich das nicht ganz verstehe. Es wird noch niemand so blöd sein, für's Ringen quer durch Deutschland umzuziehen.
"Würdest du gehen?" fragte ich ihn. Er grinste. "Mit dem Gedanken hab ich schon gespielt."
"Sag bloß, dich hat jemand angesprochen."
"Wer weiß", lachte er. "Aber ich werde nicht so schnell hier weggehen. Jedenfalls nicht, bis ich mit dem Abi fertig bin."
Es ist komisch, aber ich war beruhigt. Die Idee, daß er nach den Ferien irgendwo anders war, hätte mir überhaupt nicht gefallen.

Zu Hause waren alle verwundert, daß ich schon so früh zurück war. Aber ich hatte irgendwie keine Lust, noch irgendwas zu unternehmen. Noch ein bissel mit Phil RTL Samstag Nacht geguckt und dann zurück in mein Zimmer. Fenster auf. Tief einatmen. Max' Walkman liegt noch auf meinem Tisch. Plötzlich fühle ich mich gut und zufrieden. Es ist seltsam. Muß es dafür erst jemandem anderen schlecht gehen, bis man selbst merkt, daß es einem doch noch gut geht? Seltsam ist es schon.

Freitag, 12. Juli 1996

12. Juli

"Heute um drei."
Max muß also tatsächlich in ein Heim. Oder besser eine betreute "Jugendwohngruppe". Na toll. Wir haben uns mit Nils und Florian bei Max zu Hause getroffen. Max hat die wichtigsten Sachen und Klamotten zusammengepackt und wir haben versucht, so viel wie möglich davon in den Wagen vom Jugendamt reinzupacken. Naja, eigentlich kann er kaum was mitnehmen. Es ist schon voll Scheiße das Ganze. Die anderen in der WG scheinen ganz in Ordnung zu sein, aber das war schon echt ein beklopptes Gefühl, als wir gegangen sind und er da so völlig fremd in der Gegend rumsaß. Der Sozialarbeiter meint, Max soll die ersten Tage abends da bleiben, damit er sich einlebt. Na toll, scheint ja der totale Knast zu sein und spätestens um halb elf muß er sowieso immer wieder zurück sein. Jedenfalls sind Nils, Flori und ich hinterher noch ins Perplex gezogen. Da wir eigentlich nicht wußten, was wir sagen sollten, haben wir uns so ziemlich mit Weizen zugeschüttet. Ist schon echt Scheiße so was.

Donnerstag, 11. Juli 1996

11. Juli

"Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich wenigstens vorher fragst, wenn du hier Logiergäste aufnimmst." Mom hatte mich in der Küche abgefangen. Ok, ich gebe ja zu, sie hat Recht, aber was hätte ich denn sonst machen sollen. Ihn alleine in der Wohnung verhungern lassen?
"Wie lange bleibt er? Wie soll denn das weitergehen?"
"Keine Ahnung. Die vom Jugendamt meinen er muß in ein Heim."
"Hat er denn keine Verwandten?"
"Ich glaube nicht."
"Nun, dann wird da wohl kein Weg dran vorbei führen. Erstmal kann er natürlich hier bleiben, aber bestimmt nicht länger als ein paar Tage."
Eigentlich ist mir das auch klar.

Am Nachmittag tauchte dann diese Frau vom Jugendamt auf und meinte, Max hätte jetzt einen vorübergehenden Vormund vom Amt und daß er spätestens morgen in ein Heim soll. Irgendwie ist das alles sehr aufregend. Beim Training gab es heute auch kein anderes Gesprächsthema. Jedenfalls finde alle, daß das mit dem Heim eine absolut beknackte Idee ist. Nils ist hinterher noch mit uns mitgekommen und wir haben noch ewig bei mir gesessen und gequatscht. Max ist wirklich völlig fertig, was ich verstehen kann. Ich meine, er zeigt es nicht, aber man sieht es ihm an. Ich glaube er macht sich vor allem Gedanken darüber, was mit seinem kleinen Bruder ist.

Nun ja, jetzt pennt er, nachdem wir ein paar Dosen Bier getrunken haben. Komisch, mein Kopf ist ganz klar. Ich überlege, wie es mir wohl in so einer Situation geht. Aber ich kann es mir einfach nicht vorstellen, daß mir je so was passiert.

Mittwoch, 10. Juli 1996

10. Juli

"Da muß man den ASD vom Jugendamt einschalten," meinte Mom.
"Ob die hier überhaupt so etwas haben?"
"Natürlich, so etwas gibt es doch bestimmt überall, bestimmt irgendwo beim Rathaus." Mom setzte sich ans Telefon und begann zu telefonieren. Naja, sie bekam nur den Pförtner oder so was ran, es war halt noch zu früh. Aber jedenfalls bekam sie eine Anlaufstelle beim Amt für Jugend und Familie raus. Ich rief bei Max an, aber niemand ging ran.

Dafür tauchte er nach der großen Pause in der Schule auf. Das ist wirklich eine total bekloppte Situation. Er meint, er sitzt jetzt wirklich zu Hause, mit kaum was zu essen da, ohne Geld und weiß nicht was er tun soll. Ich habe ihm gesagt, daß er auf jeden Fall heute zum Jugendamt muß, damit die irgendwas machen.

Am Nachmittag rief er dann noch mal an: "Sie hat Paul abgeholt. Einfach so, vom Kindergarten, jetzt sitze ich ganz alleine hier." Irgendwie wird diese ganze Sache immer seltsamer. Ich bin jedenfalls zu ihm hingefahren und wir sind dann zusammen zum Rathaus gegangen. Naja, diese komische Jugendpflegerin oder was auch immer das ist, hat mich rausgeschickt und ich saß eine halbe Ewigkeit auf dem Gang rum. Als Max rauskam sah er voll bedeppert aus: "Sie meint, ich muß wohl erst mal in ein Heim."
"Was?"
"Wenn meine Mutter nicht in den nächsten zwei Tagen wieder aufkreuzt, meint sie, kann ich da nicht alleine wohnen bleiben." Irgendwie dachte ich bisher immer bei Heim an Kinderheime, wo kleine Kinder hinkommen, die keine Eltern haben. Auf die Idee, daß jemand mit 16 noch in ein Kinderheim muß, bin ich bisher noch nicht gekommen.
"Auf jeden Fall kommt heute Abend jemand vorbei, so von wegen Geld und Essen."
"Das ist doch absolute Scheiße! Los, du bleibst erstmal bei mir." Das sagte ich einfach so, oha, ich wußte gar nicht, was Mom dazu sagen würde. Max wollte zwar erst nicht, weil er meinte, vielleicht würde ja seine Mutter oder Paul zurückkommen, aber dann haben wir einen Zettel an seine Tür gemacht, mit meiner Telefonnummer.

Naja, Mom war natürlich nicht sonderlich begeistert, sie murmelte nur irgendwas von "Wir sind doch nicht das Sozialamt", aber das ist mir eigentlich egal. Irgendwann rief die Sozialarbeiterin an, die ihn besuchen wollte. Er erzählte, daß er jetzt erstmal bei mir wohnt. Naja, ich bin gespannt, wie es weitergeht.

Dienstag, 9. Juli 1996

9. Juli

"Ich habe schon mal ein paar Reiseführer mitgebracht."
Als ich heute vom Krafttraining kam, hatte Mom etliche Bücher auf dem Tisch im Wohnzimmer verteilt. "Damit wir auch wissen, was wir uns angucken müssen."
Na toll, ich dachte wir machen Badeurlaub so mit Strand und so. Statt dessen werden wir uns wieder irgendwelche gammeligen Kirchen angucken. Nächstes Jahr fahre ich auf jeden Fall alleine weg. Ich weiß nur noch nicht wohin und vor allem mit wem?

Dann klingelte das Telefon: Max war dran und erzählte mir eine ganz komische Story. Als er heute von der Schule nach Hause gekommen ist, war seine Mutter gerade dabei, ihre Sachen zu packen, sich ins Auto zu fahren und zu verschwinden. "Sie ist bisher nicht wieder gekommen." Ich verstand das alles irgendwie nicht. "Wo ist sie denn hingefahren?"
"Ich habe keine Ahnung, jedenfalls sitze ich jetzt hier mit Paul allein und weiß nicht was ich machen soll." Das ist schon alles sehr merkwürdig. Ich weiß, daß sein Vater vor etlichen Jahren gestorben ist und er nun mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder lebt. Ich meine er hat schon ein paar Mal erzählt, daß sie manchmal etwas seltsam drauf ist, aber das ist ja nun völlig strange."Vielleicht solltest du die Polizei anrufen?"
"Und was soll ich den sagen? Daß meine Mutter ihre Koffer gepackt hat und verschwunden ist?"
"Na ja, normal ist das ja nicht."
"Ich weiß nicht, was ich mache. Vielleicht komme ich morgen nicht zur Schule, ich weiß ja gar nicht, wie das jetzt alles weitergeht."
Wir haben verabredet, daß er sich morgen auf jeden Fall bei mir meldet. Ich werde morgen früh mal Mom fragen, vielleicht hat sie irgendeine Idee, was man da macht.

Montag, 8. Juli 1996

8. Juli

"Ausfüllen und unterschrieben wieder mitbringen."
Cool, heute haben wir die Anemldungen für die Herbstfahrt gekriegt. Ich bin richtig happy. Naja, ansonsten eine Arbeit und ein Test. Man merkt, daß es auf die Zeugnisse zugeht. Ich verstehe es nicht, da haben die nun wirklich das ganze Jahr über Zeit.
Doris hat mir erzählt, daß sie in den Ferien mit Clemens nach Dänemark fährt, mit Fahrrädern und Zelten wollen sie durch die Gegend ziehen. Naja, wäre nichts für mich.
Die von der Oberstufe sind inzwischen völlig am rumrasten, und reden von nix mehr anderem als ihrem Triumphbogen, naja.

Training hat endlich mal wieder Spaß gemacht und ich habe alles was uns Dimitri gezeigt hat sogar auf Anhieb richtg gepackt. Nils hat mich gefragt, ob ich nicht auch beim Mittwochtraining mitmachen will. Aber ich weiß nicht, das wäre ja dann viermal in der Woche Training oder so. Ich habe ihm gesagt, jedenfalls nicht vor den Ferien aber ich überlege es mir.

Im Moment schaffe ich es ganz gut, Silvio aus dem Weg zu gehen. Ich weiß nicht, wie weit dieser Sanierungsplan von meinem Vater schon ist. Aber wenn es wirklich so weit kommt und jemand aus Silvios Familie entlassen wird, ich glaub' dann kann ich mich einsargen lassen. Ich habe mal so geguckt wie er ringt. Er ist wirklich der absolute Bulle, keine Technik aber Kraft und vier Gewichtslassen höher. Aber ich will jetzt eigentlich gar nicht daran denken.

Sonntag, 7. Juli 1996

7. Juli

"Hey, cool, daß du da bist."
Benji boxte mich zur Begrüßung auf den Arm. "Wann bist du denn mal endlich auf der Matte zu sehen?"
"Hör bloß auf, das kommt schon früh genug." Warum wollen mich eigentlich alle immer in irgendwelche Wettkämpfe drängeln? Naja, jedenfalls war die Veranstaltung nicht so spannend. Unser Verein war sogar mit seiner zweiten Mannschaft Degendorf haushoch überlegen. Der arme Benji war total frustriert. Er meinte, vielleicht könnten sie ja etwas von den Amis lernen, die in den Sommerferien zum Austausch kommen.

Als wir danach in der Tofa waren, fragte er mich, was eigentlich aus "der Sache mit Stefanie" geworden wäre. "Hat sie dir nichts erzählt?" wollte ich wissen.
"Nö, wieso?" Uff, Schwein gehabt, anscheinend hat sie diese peinliche Szene nicht weitererzählt.
"Ach nichts, naja, wir passen einfach irgendwie nicht zusammen."
"Schade, wo ich doch so gerne den Heiratsvermittler spiele."
"Das kannst du gleich vergessen. Ich brauch in der Richtung keine Unterstüzung." Ich muß das wohl ziemlich heftig gesagt haben, denn er entschuldigte sich. Naja insgesamt war der Abend aber ganz ok. Wir blödelten rum, haben ziemlich viel Bier reingeschüttet, abgedanct und irgendwann nach eins torkelten wir dann aus dem Laden raus. Benji rief seinen Vater an, damit er ihn abholt. "Der holt dich so spät noch ab?"
"Na klar, fährt doch kein Bus mehr."
"Du könntest ja eigentlich bei mir pennen, aber leider ist im Moment mein Bruder bei mir einquartiert." Ich dachte an die Sache in Benjis Zimmer. Es muß wohl am Alk gelegen haben, daß ich ihm das vorschlug. "Naja, vielleicht ein andermal", sagte er. Dann kramte er in seinem Rucksack und holte eine kleine Flasche raus. "Hier, nimm mal einen Schluck, aber nicht runterschlucken, nur den Mund ausspülen."
"Was is'n das?"
"Probier's einfach."
Das Zeug schmeckte wie scharfe Zahnpasta. "Da riecht keiner mehr, was du heute alles intus hast." Naja, ich weiß nicht, ob das so funktioniert. Jedenfalls kam irgendwann sein Vater und ich taperte nach Hause. Phil pennte schon und schnarchte vor sich hin.
Als ich dann heute morgen aufwachte dröhnte mir mal wieder der Kopf. Als ich endlich unter der Dusche vorkam, waren sie natürlich schon mit dem Frühstück fertig. "Warum schafft es eigentlich selbst dein großer Bruder, pünktlich zum Frühstück zu erscheinen, nur du nicht?" Ich zuckte nur mit den Schultern. Keine Lust auf Diskussionen.

Am Nachmittag haben wir dann Oma zum Zug nach Hamburg gebracht. Sie meint, sie kommt bestimmt wieder mal vorbei. Lisa war ganz traurig und hat sogar geweint. Naja, wenigstens hab' ich jetzt mein Zimmer wieder für mich und hoffentlich Ruhe für Belami.

Samstag, 6. Juli 1996

6. Juli

"Kauf dir aber was Anständiges."
Naja, Moms Spruch wieder. Die ganze Family ist heute nach Karlsruhe gefahren und ich hab mich in Stuttgart absetzen lassen. Ich brauche noch ein paar Klamotten, hab' ich gesagt. Naja das stimmt auch schon und ich hab ein paar echt gute Shoes bekommen.

Aber eigentlich wollte ich ja in diesen schwulen Laden gehen. Ich bin ein paarmal vorbeigegangen, bevor ich mich getraut habe überhaupt reinzugehen. Habe geguckt ob irgendwo jemand in der Nähe wäre, den ich kenne. So ein Blödsinn eigentlich. Dann habe ich es doch gepackt. Ich kam mir irgendwie total blöd vor, mit meinem Basecap total ins Gesicht gezogen, wie in 'nem Film. Und mein Herz klopfte. Es klopfte wirklich so, daß ich glaubte alle um mich herum würden es hören. Ich hatte Glück. Der Typ hinter dem Ladentisch war damit beschäftigt zu telefonieren und sah mich nicht reinkommen. Ich war zum ersten Mal in einem Pornoladen und dann noch in einem schwulen. Eigentlich sah es aus wie eine Mischung aus stinknormaler Videothek und Buchladen: An den Wänden Regale mit Videos, Zeitungen, Büchern, Drehständer mit Postkarten usw. Wenn nur nicht diese schreckliche Musik gewesen wäre: Modern Talking. Ich wäre beinahe wieder rückwärts rausgerannt.

Es war ziemlich leer in dem Laden. Ein dicker Typ mit Schnurrbart drehte sich immer wieder nach mir um, naja ich versuchte in die andere Richtung zu gucken. Dabei wußte ich gar nicht so richtig wo ich zuerst hingucken sollte. Einige der Bilder auf den Zeitungen waren einfach nur häßlich, andere zum Lachen, einige waren echt geil. Typen mit Riesenständern und riesigen Muskeln. Großaufnahmen von Typen, die tatsächlich andere in den Hintern fickten. Mir wurde fast schlecht, aber gleichzeitig mußte ich auch lachen, so unnatürlich sah das alles aus. Hätte ich nicht einen Ständer bekommen dann würde ich glauben, daß ich gar nicht schwul bin. Auf der Flucht vor dem Schnurrbart-Typen landete ich schließlich an einem Regal mit diversen Magazinen. Lauter Supermuskeltypen. Einige lächelten, andere guckten total grimmig, sie standen in allen möglichen bekloppten Posen da, zwei taten so, als würden sie miteinander ringen. Ich fand etwas mit einigen halbwegs niedlichen Typen, die nicht ganz so abgedreht aussahen und die sich tatsächlich auch küßten. Zum Glück hatte ich meine Baggys an, so bekam niemand mit, was ich für einen Ständer hatte.

Auf dem Weg zur Kasse hätte ich fast noch einen Tisch mit lauter Riesenplastikschwänzen umgekippt, total peinlich und eklig. Oh nein, so was werd ich bestimmt nie machen. Je näher ich der Kasse kam desto zittriger wurde ich und desto feuchter wurden meine Hände. Ich legte die Zeitung auf den Ladentisch. Der Typ legte sein Telefon beiseite, guckte mich an und sagte: "Kann ich mal deinen Ausweis sehen?"
Shit!!! Ich merkte wie ich knallrot anlief. Ich stotterte irgendwas von wegen, nein, den habe ich gerade nicht mit oder so. "Dann sieh zu, daß du hier verschwindest", sagte der Typ, "du darfst hier unter 18 gar nicht rein." Ich wäre am liebsten im Boden versunken, ich glaube so klein bin ich noch nie aus einem Laden rausgekommen. Schräg gegenüber war Pizza Hut, ich mußte mich erstmal irgendwo hinsetzen. Nahm ein Stück Pizza, doch ich konnte nichts essen. Ich war geil und kam mir gleichzeitig absolut bescheuert vor.

Und dann passierte etwas noch verrückteres: Der Schnurrbart-Typ kam rein und setzte sich an meinen Tisch! Shit!!!
"Hallo."
"Hallo", sagte ich bockig und versuchte, ihn nicht anzugucken. Schweigen. Dann er wieder: "Ganz schön blöd, wenn man noch nicht 18 ist, gell?" Ich nickte nur. Was mache ich hier eigentlich? Warum stehe ich nicht einfach auf und gehe? "Wie alt bist du denn?"
"16"
"Und wie heißt du?"
Na toll, das war ja das reinste Verhör. Ich sagte ihm den erstbesten Namen, der mir einfiel: "Fabian."
"Ein schöner Name." Noch so'n bekloppter Satz. Wie kann denn ein Name schön sein?
"Ich hab' etwas für dich", sagte er und legte eine Tüte auf den Tisch.
"Was ist das?"
"Na was meinst du wohl was es ist?" Ich hatte echt keine Ahnung und guckte in die Tüte. Es war das Heft, was ich mir eben ausgesucht hatte. Ich merkte, wie ich knallrot wurde und zu stottern begann: "Äh, das geht doch nicht, das kann ich nicht..."
Der Typ grinste: "Na klar kannst du. Oder willst du noch zwei Jahre warten?" Damit stand er auf, zwinkerte mir zu und ging raus. Ich blieb völlig verdattert sitzen. Als ich endlich wieder meine Gedanken in Ordnung gebracht hatte guckte ich mich um, ob mich irgend jemand, den ich kenne gesehen haben könnte. Aber ich sah niemanden Bekanntes weit und breit. Mit zitternden Händen packte ich die Tüte in meinen Rucksack und taperte zum Bahnhof. Permanent guckte ich mich um, ob mir dieser Typ vielleicht folgt, aber da war nix. Erst als ich im Zum saß, wurde ich wieder etwas ruhiger. Doch gleichzeitg kam ich mir ganz komisch vor: Ich hatte ein schwules Pornoheft in meinem Rucksack und ich hatte das Gefühl, als könnten mir das alle Leute im Zug ansehen. Ich guckte krampfhaft aus dem Fenster und konnte kaum erwarten, nach Hause zu kommen.

Zum Glück waren die anderen noch nicht zu Hause. Ich hatte schon auf dem Weg vom Bahnhof zu unserem Haus einen Ständer bekommen, jetzt konnte ich es endlich in Ruhe durchgehen. Die Typen sehen voll niedlich aus und nicht so künstlich wie auf den anderen Heften.

Gerade als ich fertig war, hörte ich unseren Wagen in die Auffahrt kommen. Ich beeilte mich, das Heft schnell in meinen Bisley zu verstauen und schüttete die Tüte mit meinen anderen Einkäufen in mein Zimmer aus, yeah Tarnung ist alles. Als erstes stürmte Lisa rein, naja, sie wird wohl nie verstehen, daß man erst mal anklopft, aber was soll's. Sie waren im Zoo und Eis essen und und und. Lisa überstürzte sich fast und war total aufgeregt. Dann kamen die anderen und plötzlich hatten sich alle in meinem Zimmer versammelt. Naja, ich mußte meine Einkäufe präsentieren. Natürlich quengelte Mom an meinem Dieckie's Sweater und meinen DC's rum. Phil meinte nur, ob ich jetzt vom Ringer zum Skater mutiere. Naja, sollen sie, ich finde die Sachen cool.

So, nun sind alle wieder unten und ich schreibe. Eigentlich habe ich Lust, noch mal mein Heft rauszuholen, aber ich lasse es lieber, wer weiß wer als nächstes reinstürmt.

Freitag, 5. Juli 1996

5. Juli

"Hey, bist du morgen bei den Kämpfen dabei?"
Benji rief nach der Schule an. Ich kam mal wieder aus dem Mustopf. Degendorf tritt wohl morgen gegen unsere zweite Mannschaft an, bei uns in der Halle. "Na jedenfalls nicht auf der Matte."
"Na ich auch noch nicht, weiß ja, meine Rippe. Aber dann können wir ja hinterher vielleicht noch weggehen."
"Wie wär's mit der Tofa?" Ich weiß auch nicht, warum ich ausgerechnet das vorgeschlagen habe, aber mir fiel so schnell wahrscheinlich nichts anderes ein.
"Jo, geht klar, wird sicher cool."

Na ob das so cool wird, weiß ich noch nicht. Ich sitze bestimmt wieder völlig neben der Rolle in der Gegend rum, während alle möglichen Leute mit den Mädels rumbaggern.
Ansonsten merkt man auch hier wieder, daß es kurz vor den Zeugniskonferenzen ist. Alle Lehrer wollen noch mal hier schnell einen Test und da eine Arbeit. Es ist echt zum Kotzen. Die nächste Woche wird noch mal total ätzend.

Moms Geburtstagsfeier am Abend war wie immer reichlich unspannend. Feier ist sowieso zu viel gesagt. Ein großes gemeinsames Raclette-Essen und das war es dann. Ich frage mich echt, wieso Oma dafür extra hier runtergekommen ist. Aber was soll's. Wenigstens war Dad mal früh zu Hause. Und Mom hat sich über meine CD gefreut.

Donnerstag, 4. Juli 1996

4. Juli

"Was soll das denn werden?"
Dimitri war heute mal wieder total stinkig. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich das ganze mit dem Ringen überhaupt mache. Permanent werde ich angemotzt und als der absolute Blödi hingestellt. Ok, die anderen Jungs sind ja ok, bis auf Silvio. Er hat mich heute in Ruhe gelassen, aber ich hab auch nicht gewagt ihn nur irgendwie anzusehen.

Nach dem Training war ich mit Nils noch im Perplex. Und er fragte mich plötzlich, ob eigentlich was zwischen mir und Doris läuft.
"Wieso?" wollte ich wissen.
"Es sieht halt so aus."
"Wie, es sieht so aus, als wenn ich was mit Doris habe? Ist doch nicht dein Ernst."
"Na man könnte auf die Idee kommen, wenn man euch beide so zusammen sieht."
Ich versuchte ihm zu erklären, daß Doris einfach nur eine sehr gute Freundin ist und wir nichts weiter miteinander haben. Nils guckte mich an als würde er mir nicht glauben: "So was geht nicht."
"Wie? Was geht nicht?"
"Na man kann doch nicht mit einem Mädchen einfach nur so sehr gut befreundet sein."
Meine Güte, ist dieser Typ beschränkt. "Doch kann man", sagte ich, "und außerdem hat sie einen Freund, also vergiß es einfach. Wir sind einfach nur befreundet und reden über alles." Nils verzog den Mundwinkel: "Du bist manchmal komisch."
"Ich bin komisch?" schrie ich. Natürlich wieder so laut, daß es der ganze Laden hören konnte. "Wieso bin ich komisch, wenn du einfach zu blöd bist, bestimmte Sachen zu verstehen?"
Nils saß einfach nur da, mit offenem Mund und schaute völlig dumm aus der Wäsche. "Ich, ich...", stotterte er. Ha, so habe ich ihn noch nie erlebt. Es tat richtig gut, mal wieder richtig aus der Haut zu fahren. Aber dann tat es mir auch wieder leid und ich sagte: "Komm, lassen wir das Thema einfach." Nils nickte aber er guckte mich den Rest des Abends immer wieder sehr merkwürdig an.

Mittwoch, 3. Juli 1996

3. Juli

"Ist das dein Alter?"
Silvio stand vor mir und knallte mir die Zeitung auf den Tisch. Ich kannte den Artikel, wir haben ihn alle heute früh schon beim Frühstück gelesen.
"Ja und?"
"Wenn er die MeWa platt macht, kannst du was erleben."
"Wieso, was hab ich damit zu tun?" Ich bekam totale Panik. Silvio, dieser Klotz stand vor mir und ich saß auch noch.
"Da arbeiten mein Vater und mein Bruder."
"Na und? Ist da mein Ding?" Das hätte ich nicht sagen sollen, denn er zog mich von meinem Stuhl und drückte mich auf den hinteren Tisch: "Hör mal zu du kleine Schwuchtel, sag deinem Alten er kann seinen kleinen Tim einzeln einsammeln, wenn einer aus unserer Familie da rausfliegt." Dann ließ er mich los und ging zu seinem Platz. Ich hatte das erste Mal seit langer Zeit wieder richtig Schiß. Ich meine, richtig, so daß mir was passieren könnte. Gleichzeitig hätte ich heulen können. Ich hasse dieses Gefühl absolut hilflos zu sein, nichts machen zu können. Zum Glück kamen Nils und die anderen erst nach dieser Szene. Aber Silvio ist echt ein Arsch.

Am Nachmittag war ich mit Phil und Oma in Stuttgart. Wir sind endlos durch die Fußgängerzone getapert. Jedenfalls habe ich die CD für Mom endlich bekommen, ansonsten sind wir aber ohne was zu kaufen wieder zurückgefahren. Was aber schon etwas spannend war, war daß wir in einer Seitenstraße an einem schwulen Buchladen oder Sexshop vorbeigekommen sind. Ich bekam richtig Herzklopfen. Ich habe versucht mir die Straße zu merken. Obwohl, ich komme da bestimmt nicht rein. Shit man müßte 18 sein.

Mom und Dad hab ich nichts von der Sache mit Silvio erzählt. Dad erzählte von seiner Aktion bei Blohm&Voß. Naja, das muß so vor sechs Jahren gewesen sein. Ich habe es seinerzeit kaum mitbekommen, weil ich bestimmt andere Sachen im Kopf hatte. Ich weiß nur noch, daß ein paar Tage lang immer Polizei vor unserem Haus stand. Naja ich hoffe nicht, daß das hier auch so schlimm wird.

Ich habe dann noch eine Weile mit Phil gequatscht, jetzt pennt er, ich hab gar nicht mitbekommen wie er letzte Nacht nach Hause gekommen ist.

Dienstag, 2. Juli 1996

2. Juli

"Das ist noch lange nicht ausgestanden."
Dad kam heute völlig fertig von der Arbeit. Es gab wohl eine Betriebsversammlung wo er den Plan für die Sanierung vorgestellt hat. Jedenfalls ist es zu einem Riesentumult gekommen, mit Presse und so weiter. Ganz viele Leute müssen entlassen werden. Dad meinte, sonst wäre die Fabrik gar nicht mehr zu retten und alles würde geschlossen. Ich habe ihn gefragt, wer denn entlassen wird. Er erzählte etwas von Sozialauswahl, was ich nicht richtig verstanden habe. Aber ich wollte nicht weiter fragen, weil er ziemlich fertig aussah. Dann hat er sich in sein Arbeitszimmer eingeschlossen und ist nicht mehr rausgekommen, jedenfalls nicht solange ich noch unten war. Phil ist unterwegs, Bergbach erkunden, wie er gesagt hat. Er ist bis jetzt nicht zurück.

Montag, 1. Juli 1996

1. Juli

"Kannst du denn nicht einmal dein Training ausfallen lassen? Jetzt wo wir endlich mal alle zusammen sind?"
Ich schüttelte den Kopf: "Ich war schon am Donnerstag nicht da, da kann ich nicht heute schon wieder fehlen." Mom will es einfach nicht verstehen aber ich kann es nicht ändern. Nun ja, das Training war ehrlich gesagt auch nicht so doll spannend. Dimitri hatte wohl nicht so recht Lust und maulte nur rum. Anyway, Phil holte mich vom Training ab und wir sind noch ins Perplex gegangen.
"Tut das nicht weh?" wollte er wissen.
"Was?"
"Na wenn du so auf den Boden geworfen wirst."
"Hast du etwa zugeguckt?"
"Naja denkst du, ich stehe da wie blöd vor der Halle rum und warte bis mein Brüderchen kommt?"
Mir gefällt der Gedanke überhaupt nicht, daß jemand von meiner Family mir beim Ringen zguckt, auch nicht Phil. "Nein, das tut nicht weh. Jedenfalls nicht schlimm. Außerdem gewöhnt man sich dran."
"Was denn nun? tut es weh oder gewöhnt man sich?" Meine Güte, was die Leute sich immer vorstellen. "Meistens tut es nicht weh, und wenn, dann ist es nicht so schlimm, man härtet ab mit der Zeit." Phil zog die Stirn kraus: "So kenne ich dich gar nicht. Du wirst ja richtig tough." Ich wünschte er hätte recht, wenigstens was meine Seele betrifft. Ich wechselte das Thema und fragte ihn, wie es ihm hier gefällt: "Eigentlich ganz nett, endlich mal etwas übersichtlicher, nicht so ein Moloch wie in Hamburg." Na toll, mein eigener Bruder wird spießig. "Als wenn Neugraben ein Moloch ist." Aber er jammert, weil seine Britta nicht da ist. Ich würde ihm ja gerne helfen, aber ich weiß nicht wie. Ich glaube, ich bin ganz schlecht im Trösten von anderen Leuten.